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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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    Die Old Central-Schule stand immer noch aufrecht und wahrte ihre Geheimnisse und ihre Stille fest im Inneren. Kreidestaub von vierundachtzig Jahren schwebte in den seltenen Schächten des Sonnenlichts, und die Erinnerung an über achtzig Jahre des Einwachsens stieg von den dunklen Treppen und Böden auf und aromatisierte die stehende Luft mit dem Mahagonigeruch von Särgen. Die Wände von Old Central waren so dick, daß sie Geräusche zu absorbieren schienen, die hohen Fenster, deren Glas von Alter und Schwerkraft verkrümmt und verzerrt worden war, tönten die Luft mit tintenfar-bener Müdigkeit.
    Die Zeit verrann langsamer in Old Central, wenn überhaupt. Schritte hallten durch Flure und Treppenhäuser hinauf, doch die Geräusche schienen gedämpft zu sein und nicht synchron mit jedweden Bewegungen in den Schatten zu verlaufen.
    Der Grundstein von Old Central war 1876 gelegt worden, in dem Jahr, als General Custer und seine Männer weiter westlich beim Little Bighorn River abgeschlachtet worden waren; in dem Jahr, als weiter östlich während der Hundertjahrfeier der Nation in Philadelphia das erste Telefon vorgestellt wurde. Die Old-Central-Schule lag in Illinois, in der Mitte zwischen diesen beiden Ereignissen, aber fernab vom Lauf der Geschichte.
    Im Frühling des Jahres 1960 glich die Old-Central-Schule einigen der steinalten Lehrer, die dort unterrichtet hatten: zu alt, um weiterzumachen, aber zu stolz für den Ruhestand, und nur durch Gewohnheit und die störrische Weigerung, sich zu beugen, aufrecht gehalten. Weil selbst unfruchtbar, eine tückische alte Jungfer, lieh sich Old Central im Lauf der Jahrzehnte anderer Leute Kinder aus.
    Mädchen hatten im Schatten ihrer Flure und Klassenzimmer mit Puppen gespielt und waren später im Kindbett gestorben. Jungs rannten rufend durch die Korridore, mußten in der zunehmenden Dunkelheit der Winternachmittage in stummen Zimmern nachsitzen und wurden in Orten begraben, die nie im Geographieunterricht erwähnt wurden: San Juan Hill, Belleau, Okinawa, Omaha Beach, Pork Chop Hill oder Inchon.
    Ursprünglich war Old Central von freundlichen jungen Schößlingen umgeben gewesen, und die näheren Ulmen hatten an warmen Mai-und Septembertagen den unteren Klassenzimmern Schatten gespendet. Aber im Lauf der Jahre starben die umliegenden Bäume ab und die Umgrenzung gigantischer Ulmen, die den Block von Old Central säumten wie stumme Wächter, wurden infolge Alter und Krankheit kalkig und skelettartig. Einige wurden gefällt und abtransportiert, aber der Großteil blieb stehen, und die Schatten der kahlen Äste fielen über den Spielplatz und die Sportfelder wie knorrige Hände, die nach Old Central selbst zu greifen schienen.
    Besucher der kleinen Stadt Elm Haven, die die Hard Road verließen und die zwei Blocks entlangschlenderten, die sie hinter sich bringen mußten, um Old Central zu sehen, hielten das Gebäude manchmal irrtümlich für ein übergroßes Gerichtsgebäude oder ein abgelegenes Amt des County, das durch Anbauten zu grotesken Dimensionen aufgebläht worden war. Welche Funktion konnte dieses riesige dreigeschossige Bauwerk inmitten seines eigenen Blocks schon in einer verfallenen Kleinstadt mit achtzehnhundert Seelen haben? Dann sahen die Besucher die Geräte auf dem Spielplatz und erkannten, daß es sich um eine Schule handelte. Eine bizarre Schule: Das schmuckvolle Dachgestühl aus Kupfer und Bronze auf dem schwarzen, steilen Dach war von Grünspan überzogen und lag mehr als fünfzehn Meter über dem Boden; Richardsonsche romaneske Steinbögen krümmten sich wie Schlangen über dreieinhalb Meter hohen Fenstern; die zusätzlichen, weit verteilten runden und ovalen Buntglasfenster wirkten wie eine absurde Kreuzung aus Schule und Kathedrale; die chateauesken Giebel der Dachgauben ragten über Erkern im dritten Stock empor; die seltsamen Voluten über den nach innen versetzten Türen und blinden Fenstern sahen wie Stein gewordene Holzschnitzereien aus und wirkten auf den Betrachter äußerst beunruhigend aufgrund ihrer gewaltigen, unpassenden und irgendwie geheimnisvollen Größe. Old Central mit seinen drei Fensterreihen, den überhängenden Erkern und spitzgiebligen Dachgauben, dem schrägen Dach und dem schorfigen Dachgestühl schien für so eine bescheidene Stadt eine viel zu große Schule zu sein.
    Wenn der Besucher überhaupt eine Ahnung von Architektur hatte, hielt er (oder sie) auf der stillen Asphaltstraße an, stieg aus dem Auto, staunte und machte
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