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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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Sybille, deren Eltern sich anstelle des geplanten Campingurlaubs am Anfang dieses Sommers doch den ersten Fernseher geleistet haben, hat der Ältere Bruder gesehen, wie es aussieht, wenn in Südamerika, im Delta des Amazonas, riesige, weiß-schwarz getigerte Wespen das Nest zu erobern versuchen, das sich pelzige, graue Bienchen in einem hohlen Baum gebaut haben. Er, die beiden Böhm-Mädchen und seine kleinen Brüder staunten, mit welchem Heldenmut die unscheinbaren Immen ihr Heim zu verteidigen wussten. Köpfchen an Köpfchen warfen sie sich den furchterregend großen Artverwandten entgegen. So eine Schlacht findet jetzt in seiner Ferse statt, mit Krabbeln und Zappeln und Massakrieren, mit ausgefahrenem Giftstachel und tausendundeinem gemeinen Biss in jenen dünnen Stiel, der bei den Angreiferinnen wie bei den Angegriffenen die Brust mit dem Hinterleib verbindet.
    «Dein Fuß, das ist nichts mehr für mich, für meine matten Augen und meine zittrigen Finger», hatte Doktor Junghanns ihm ins Ohr geflüstert, als sollte dies ein Geheimnis zwischen ihnen beiden bleiben, als dürften der Wolfskopf, der Ami-Michi, der Schniefer und die Schicke Sybille, als dürfte keiner seiner Freunde dieses Eingeständnis mitanhören. «Dein Fuß ist mir ein bisschen zu diffizil. Ich gebe dir bloß etwas gegendie Schmerzen und den Wundstarrkrampf. Der Herr Professor Felsenbrecher im Josephinium, unten in Oberhausen, der ist ein Könner auf diesem Gebiet und ein begnadeter Scherzkeks dazu. Glaub mir, der wird seine helle Freude an deiner Ferse haben!»
    Also wurde per Telefon ein Krankenwagen herbestellt, Junghanns versorgte noch den Wolfskopf, der sich bei ihrem Sturz die Knie aufgeschlagen hatte, und bevor der Ältere Bruder sich sicher war, ob es ihm lieber wäre, wenn die Sanitäter nun möglichst bald oder möglichst spät kommen würden, sah der Ami-Michi, der am Fenster Position bezogen hatte, schon den cremefarbenen Rotkreuz-Kombi, exakt so einen, wie ihn der Schniefer in seiner Sammlung aus streichholzschachtelkurzen, eisenschweren Modellen hat, vor den Praxiseingang rollen. Eine große Schwester oder ein großer Bruder dürfe mit nach Oberhausen hinunter, sagte der Krankenwagenfahrer, und da hielt der Wolfskopf die Schicke Sybille, die sich vorgedrängelt und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, sogleich als ältere Schwester ausgegeben hatte, am Rockbund fest und kletterte als ebenso falscher Bruder durch die weit aufstehenden Flügel der Hecktür, weil er ja in die Pedale getreten hatte und daher der erste aller Mitschuldigen war.
    Im Josephinium hieß es, der Herr Professor Felsenbrecher operiere noch. Also begutachteten erst einmal zwei andere Weißkittel den lädierten Fuß, ganz junge Männer mit fast gleichen Brillen, die beide auch schon fertigstudierte Ärzte waren, es aber nicht für nötig hielten, dies dem Älteren Bruder auf die Nase zu binden. Es folgte eine kleine Prozession von Schwestern, die nacheinander ihre gestärkten weißen Hauben über seinem Fuß schüttelten, ihn alle zunächst «Duarmer Bub» nannten, sich dann erkundigten, wie er heiße, damit sie ihn mit seinem Vornamen, zu dem sie ihn ausnahmslos beglückwünschten, weiterfragen konnten, wie das denn bloß passiert sei.
    Das ganze Wartebrimborium zog sich so lang hin, dass der Ältere Bruder irgendwann aufs Klo musste. Eine von den Ordensschwestern, eine sehr kleine, stramm dicke, hievte ihn, als er sich endlich durchgerungen hatte, damit herauszurücken, in einen uralten schwarzen Rollstuhl und schob das Gefährt, dessen hohe Räder geigenartig quietschten, den Gang hinunter. Auf dem Weg hat sie unserem großen Bruder dann mitten in diese Katzenmusik hinein verraten, wie sie selber heißt. Es ist ein Name wie aus einem Buch. Im Kopf hat er ihn gleich ein paarmal hintereinander aufgesagt, um sich nicht zu blamieren, falls seine Nennung auf dem Krankenhaus-Klo oder später noch einmal nötig sein sollte. Nun wird er das ganze Dreieck, das Quietschen des Rollstuhls, die reißnagelspitzen Schmerzen im Fuß und die fünf katholischen Silben, solang er denken kann, nicht mehr vergessen können. Im übernächsten Sommer, nach dem zweiten Jahr Gymnasium, wird sich unter den vielen lateinischen Vokabeln, die ihm dann bereits hinter die Stirn geknüpft sind, auch diejenige finden, die es braucht, um den Namen der dicken kleinen Schwester an eine Bedeutung zu fesseln. Auf dem Klo des Josephiniums war das katholische Wort indes noch glücklich unübersetzt
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