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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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und machte mit seiner Rätselhaftigkeit, mit seinem haltlosen Schweben über dem Netzwerk der deutschen Wörter ein bisschen weniger peinlich, dass ihn die Schwester während der ganzen, wegen seines Fußes arg umständlichen Pinkelprozedur nicht aus den Augen ließ.
    Dann kam der Herr Professor zum Zug. Groß und massig und achtunggebietend rauschte er herein und erwies sich, Doktor Junghanns hatte nicht übertrieben, sogleich als ein wahrer Witzbold. Während seine fleischige Nase die blutverkrustete Ferse, den geschwollenen Knöchel und den garstig aufgerissenen Spann so dicht umkreiste, als ginge es darum, ihnen den Grad ihrer Versehrtheit abzuschnüffeln, meinte er zu den jungen Ärzten, da habe wohl einer versucht, mit einer Stacheldrahtkugel Fußball zu spielen. Brav lachten die Bebrillten über den Scherz ihres Chefs. Seinen Patienten fragte er, ob er die Geschichte kenne, in der die Mäuse-Elf bei strömendem Regen zu einem Match gegen eine Auswahl der Elefanten antrete. Und obwohl unser großer Bruder nickte, obwohl er noch dazu in unwillkürlicher Abwehr die Hand bis vors Gesicht hob, wurde das ungleiche Fußballspiel sogleich angepfiffen, der klitschnasse Ball flog in den Strafraum der Mäuse, der Mittelstürmer der Dickhäuter stampfte den beherzt heraushechtenden Hüter des Mäusetors vollständig ins aufgeweichte Erdreich, zog ihn aber sofort wieder mit dem Rüssel hervor, um sich bei dem wundersam heil Gebliebenen zu entschuldigen, damit dieser, die schlammtriefende Mütze gerade rückend, sagen konnte, alles sei halb so schlimm, ihm hätte, bei diesen außerordentlich schwierigen Platzverhältnissen, das Gleiche genauso gut passieren können.
    Witz auf Witz feuerte Professor Felsenbrecher auf den Älteren Bruder ab, Elefanten-und-Mäuse-Witze, Cowboy-und-Indianer-Witze, Neger-im-Urwald-Witze, Irre-im-Irrenhaus-Witze, Lehrer-und-Pfarrer-Witze. Und als irgendwann der erste Witz-mit-dem-lieben-Gott in einer provokanten Pointe zündete, bekam die kleine dicke Schwester einen tütenspitzen Mund und Grübchen in den Backen, weil siemit Macht gegen ein Loskichern ankämpfte, das sich nicht mit der Bedeutung ihres Namens vertragen hätte. Unserem großen Bruder war bereits beim zweiten Witz das Wasser in die Augen geschossen, und weil er auf keinen Fall wirklich losweinen wollte, stellte er sich vor, er weine bereits. Mit aller Kraft presste er die Lider zusammen und hielt die Tränen zurück, indem er sich selbst als einen Anderen hemmungslos heulen sah. Diesem anderen Älteren Bruder kullerte es in einem fort über die Backen. Die Tränen umkurvten seine Nase, sickerten zwischen seine Lippen und tropften ihm vom Kinn. Ein Glück, dass dieser andere so ausgiebig weinen konnte. Denn was der witzelnde Professor da unten mit dem verunglückten Fuß anstellte, tat so arg weh, tat weh, wie nie zuvor gespürt, und hörte nicht auf, unerhört schrill wehzutun, so weh, dass er und der tränenüberströmte Andere lieber kein einziges Mal dorthin blickten, wo ein kleiner Teil ihres Inneren, ein Kostpröbchen nur, in Fetzen nach außen gerissen worden war.
    Der Wolfskopf aber, den der Professor vor die Tür zu schicken vergessen hatte, hat alles, das ganze blutige Geschäft, bis in den kleinsten Handgriff für immer und ewig gesehen. Als die Mutter kam und ihn an der Wand, in der Lücke zwischen zwei weißen Blechschränken, entdeckte, erwiderte er ihren Gruß nicht, machte nicht den geringsten Mucks, als wollte er weiterhin unbemerkt bleiben. Der Mutter flößte diese Stummheit Angst ein. Und deshalb hat sie am Abend dem Vater genau beschrieben, wie starr, wie schocksteif dem Nachbarsjungen die dicken, aschblonden Haare, die er so lange wie keiner seiner Freunde vor dem Friseur zu retten versteht, vom Kopf weggestanden seien. Gleich einem in eine Ecke getriebenen Tier, still und panisch zugleich, sei derWolfgang an der hellgrün glänzenden Wand gestanden, und zum ersten Mal habe er seinen Spitznamen für sie zu Recht getragen.
    Nun im Bett der Eltern, den verschwitzten Schopf im Kopfkissen der Mutter, versucht der Ältere Bruder sich an möglichst viele der Felsenbrecher’schen Witze zu erinnern. Seine kleinen Brüder, die Zwillinge, sind nämlich wie der Professor große Witzeliebhaber. Sie sammeln sie in ihrem gemeinsamen Gedächtnis, und sie behaupten, unendlich viele hintereinander erzählen zu können. Gelegentlich versucht ein Erwachsener, die beiden der Prahlerei zu überführen, doch bis jetzt hat noch
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