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Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Titel: Am Mittwoch wird der Rabbi nass
Autoren: Harry Kemelman
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    «Ich nehme an, Sie freuen sich über den Ausgang der Wahl.»
    Rabbi David Small drehte sich um. Der Mann, der ihn gerade eingeholt hatte, war Joshua Tizzik, klein, mager, mit langer Nase und einem ständig zu höhnischem Grinsen verzogenen Mund.
    Die Abendandacht war beendet, und Rabbi Small ging, die milde Luft dieses Altweibersommers im Oktober genießend, zu seinem Wagen, den er auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Der Rabbi war hager, blass und nahm, obwohl er noch nicht einmal vierzig Jahre alt war, beim Gehen die typische gebeugte Haltung eines Gelehrten ein. Er richtete den Blick seiner kurzsichtigen Augen auf Tizzik. «Wenn Sie meinen, dass die Wahl Chester Kaplans und seiner Freunde ein neu erwachendes Interesse an der religiösen Funktion der Synagoge im Vergleich zu ihrer gesellschaftlichen Funktion bedeutet – nun, dann bin ich natürlich froh. Wenn Sie andererseits andeuten wollen, dass ich etwas damit zu tun hatte, so irren Sie sich. Ich mische mich nie in die Synagogenpolitik ein.»
    «Oh, ich will ja nicht behaupten, dass Sie für ihn geworben haben, aber erzählen Sie mir nicht, dass Sie sich nicht über seinen Sieg freuen.»
    «Na schön», antwortete der Rabbi gutmütig, «ich werde es nicht tun.» Er hatte im Laufe der Jahre festgestellt, dass es keinen Sinn hatte, mit dem ewig unzufriedenen Mr. Tizzik zu diskutieren.
    «Und was die neu erwachende Religiosität angeht, da machen Sie sich nur keine Illusionen, Rabbi. Diesen Sieg hat Chet Kaplan nur guter Organisation und ganz gewöhnlicher Wahlpolitik zu verdanken. Seit über einem Jahr hält er jetzt jeden Mittwochabend diese Empfänge bei sich zu Hause ab …»
    «Ich habe nie einen besucht.»
    «Nein?» Tizzik war offen ungläubig. «Also, nehmen wir mal eine Kleinstadt wie Barnard’s Crossing. Was kann man da abends anfangen? Am Freitag ist der Abendgottesdienst in der Synagoge, aber Sie wissen genau, dass die Hälfte der Gemeindemitglieder nur kommt, weil das eine Möglichkeit ist, sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben. Am Samstagabend geht man vielleicht zum Essen aus oder ins Kino. Und damit hat sich’s dann schon so ziemlich. Als damals Chet Kaplan mit diesen Empfängen anfing, gab er den Leuten eine weitere Gelegenheit, sich zu treffen. Man kann eine Tasse Kaffee trinken oder ein Bier, ein paar Doughnuts essen …»
    «Aber was machen die Leute dort, Mr. Tizzik?»
    «Sie reden – hauptsächlich über die Synagoge, weil das ein alle interessierendes Thema ist. Wir diskutieren über Religion. Darin sind wir ja alle Experten. Manchmal lädt Kaplan auch jemanden ein, der einen kleinen Vortrag hält. Er hat einen guten Freund in New Hampshire, den Rabbi Mezzik …» Er lachte. «Einmal hab ich zu ihm gesagt, wir könnten im Varieté auftreten. Mezzik und Tizzik. Na ja, und dieser Rabbi Mezzik, der hat es mit der Meditation. Er spricht über den Judaismus und die anderen Religionen wie das Christentum und den Buddhismus und in welchem Verhältnis sie zu unserer Religion stehen.»
    «Und dann krönt Chester Kaplan das Ganze mit einer Rede zur allgemeinen Gemeindepolitik?»
    «Aber nein, so plump ist er bestimmt nicht. Aber er hat da eine Gruppe gebildet, die mit ihm an den Meditationen teilnimmt, alle diejenigen, die er auf seiner Liste für den Vorstand hatte. Die bilden so eine Art Inneren Kreis. Manchmal mieten sie sich, wie ich gehört habe, für ein paar Tage ein Erholungslager und führen da alle möglichen Diskussionen. Und beten natürlich, soweit ich weiß, denn dieser Rabbi Mezzik hat auch damit zu tun. Die Übrigen dagegen, diejenigen, die nur zu ihm kamen, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, na ja, die fanden, wenn ihr Gastgeber sich um den Posten als Vorsitzender bewirbt, müssten sie eben für ihn stimmen. Und kurz vor der Wahl fingen die Männer aus dem Inneren Kreis an, jeden anzurufen, der jemals an einer Versammlung teilgenommen hatte. Die Namen hatten sie aus einem Gästebuch, in das man sich bei Chet eintragen muss.»
    Rabbi Small nickte. «Ja, Mr. Tizzik. Das leuchtet mir ein, dass er damit Erfolg haben musste. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wie in allen kleinen Ortschaften gibt es hier in Barnard’s Crossing nur eine einzige Synagoge, denn die jüdische Gemeinde ist nicht groß genug, um mehr als eine zu finanzieren. Und sie wurde als konservative Synagoge eingerichtet, damit sich niemand, weder die Orthodoxen auf der einen noch die reformierten Juden auf der anderen Seite, allzu unbehaglich
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