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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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Prolog
    Geheimarchiv des Vatikans in Rom
    Sonntag, 21. Februar 1445
    Eine Stunde vor Sonnenaufgang
    Der alte Mönch schaudert. In den Gewölben des Vatikans ist es kalt wie in einer Gruft. Er steigt eine Treppe hinunter und geht einen langen, düsteren Gang entlang in Richtung der Krypta der Basilica di San Pietro.
    Als er mit rasselndem Schlüsselbund die Tür zum Geheimarchiv aufschließen will, stutzt er.
    Sie ist nur angelehnt.
    Nein, erschrocken oder ängstlich ist er nicht, aber eine gewisse Unruhe kann er nicht leugnen. Er ist sicher, dass er die Tür abgeschlossen hat, als er lange nach Mitternacht die Kammern des Archivs verließ.
    Leonardo hält den Atem an und lauscht in die nächtliche Stille der alten Gewölbe. Doch alles ist ruhig.
    Er stößt die Tür auf. Die rostigen Scharniere knarzen leise.
    »Alessandra?«
    Der alte Mönch betritt den Raum. Er ist verlassen.
    In den Regalen reihen sich die zu Folianten gebundenen Akten. Neben dem Arbeitstisch steht die Truhe mit der privaten Korrespondenz von Papst Johannes. Leonardo will sie heute ordnen. Der Papst war des Raubes, des Mordes, der Vergewaltigung und des Inzests angeklagt und durch Luca d’Ascoli, den ›Richter Gottes‹, als Pontifex maximus abgesetzt worden. Die unerfreulichsten Briefe wird Leonardo auf Befehl von Papst Eugenius verbrennen und eines der dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte neu schreiben.
    Auf dem Arbeitstisch liegen die Werke von Flavius Josephus, die Alessandra letzte Nacht studiert hat, um sich auf ihre Expedition nach Jerusalem vorzubereiten. Die Beschreibung des jüdischen Tempels ist mit einem Streifen Pergament markiert. Alessandras Notizen über die seit der Zerstörung des Tempels verschollene Tempelbibliothek, die sie in den Ruinen zu finden hofft, liegen zwischen apokryphen Schriften verstreut. Alles scheint unverändert.
    Erst jetzt bemerkt Leonardo den Lichtschimmer unter der Tür gegenüber. Er zuckt erschrocken zusammen.
    »Alessandra?«
    Stöbert sie wieder in den antiken Handschriften, in der Hoffnung, dort Hinweise auf die verlorene Tempelbibliothek zu finden? Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass sie sich schon vor der Laudes in ihre Arbeit vergräbt, wenn sie nicht schlafen kann.
    Keine Antwort.
    Leonardos Herz pocht laut in seinen Ohren. Unruhig tastet er nach dem Holzkreuz auf seiner Brust und umklammert es mit zitternden Fingern.
    Um Himmels willen! Ist in der Kammer des Archivs ein Feuer ausgebrochen? Alle Akten des Archivum Secretum werden in diesen Gewölben aufbewahrt. Dekrete, Breven, Bullen. Prozessakten der Inquisition. Häretische Schriften. Apokryphe Evangelien. Das Unionsdekret, das das jahrhundertealte Schisma aufgehoben und die Kirche Jesu Christi wieder vereint hat.
    Doch es riecht nicht nach Rauch. Kein tosendes Inferno.
    Ist jemand ins Geheimarchiv der Päpste eingedrungen?
    Ohne sein hölzernes Brustkreuz loszulassen, huscht Leonardo lautlos zur Tür. Sein Habit streift Alessandras aufgeschlagenes Notizbuch. Es wird vom Tisch gerissen. Mit einem erschreckend lauten Krachen landet es auf dem Boden.
    Wieder zuckt Leonardo zusammen. Vor Aufregung wagt er kaum zu atmen. Aber dann fasst er sich ein Herz. Er vermag seine Hand kaum ruhig zu halten, als er die Klinke nach unten drückt und die Tür aufschiebt.
    Vorsichtig späht er in den Raum. Er ist dunkel und verlassen. Tiefe Schatten hängen wie Spinnweben zwischen den Regalen. Einige der Truhen, die seit Papst Eugenius’ Rückkehr aus dem Exil in Florenz noch nicht ausgepackt worden sind, stehen offen. Augenscheinlich sind sie durchwühlt worden. Pergamente und Folianten liegen verstreut auf dem Steinboden.
    Leonardo tritt in den Raum, hebt eines der Dokumente auf und entziffert die lateinische Handschrift.
    Die Akten der Inquisitionsprozesse gegen die Templer!
    Und Luca d’Ascolis Urteil als Inquisitor!
    Durch die geöffnete Tür zur nächsten Kammer dringt Licht, wie von brennenden Kerzen.
    Ein leises Knistern!
    Leonardos Herz setzt einen Schlag aus. Das Pergament entgleitet seiner Hand und flattert zu Boden.
    Jemand ist noch dort.
    Das Licht flackert, als ob es von einem Luftzug bewegt wird. Aber kein Schatten regt sich.
    Starr vor Entsetzen wartet Leonardo einige Atemzüge lang, doch nichts geschieht. Mit zitternden Knien schleicht er schließlich zwei, drei, vier Schritte auf die geöffnete Tür zu. Ein Geräusch – hinter ihm! Zu Tode erschrocken taumelt er herum.
    Aus den tiefen Schatten taucht ein hochgewachsener Mann auf. Die
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