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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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Boden!«, gebietet der Abuna. Mit seinem Gefolge ist er soeben am Portal erschienen. Neben ihm steht ein Diakon, der eine Schale mit geweihtem Wasser darbietet.
    Der König der Könige, angetan mit der prächtigen Staatsrobe seines Vaters David und einem Schleier, der sein Gesicht verbirgt, hält auf den Stufen zum Portal inne. Zwei Diener knien nieder, um die Riemen seiner Sandalen zu lösen.
    »Wer bist du?«, fragt Abuna Gabriel barsch, dem uralten heiligen Ritual folgend.
    Der Gesalbte des Herrn antwortet nicht sofort. Langsam wendet er sich um. Sein Blick sucht den nur wenige Schritte entfernten steinernen Thron Davids und Salomos und die monolithischen Stelen, die in den blauen Himmel aufragen.
    Zwischen den hohen Stelen leuchten die mit Ikonen bestickten Schirme der Priester, die eben noch die Psalmen gesungen haben. Ihre Trommeln und Sistren sind verstummt.
    Die in weiße Gewänder gehüllten Gläubigen, die sich seit dem frühen Morgen zwischen den Eukalyptusbäumen drängen, recken die Köpfe. Sie wollen einen Blick auf den Erwählten Gottes erhaschen, der an diesem zweiten Tag des Monats Miyazya im Weltjahr 6945 das Heiligtum betritt. Es ist Fasika, das Fest der Feste. Der Tag, an dem Gott den Bund mit seinem auserwählten Volk erneuern wird.
    Atemlose Stille herrscht auf dem weiten, von der Sonne durchglühten Platz, als der Abuna seine Frage in schroffem Tonfall wiederholt: »Wer bist du?«
    Der König der Könige wendet sich zu ihm um. »Ich bin der Sohn Davids, der Sohn Salomos, der Sohn Meneliks«, antwortet er mit weit tragender Stimme.
    Ein ekstatisches Trillern, ein schrilles Triumphgeschrei von tausend schlagenden Zungen, weht über den Platz.
    Der Abuna verneigt sich tief. »Wahrhaftig, dann seid Ihr der Gesalbte des Herrn! Gelobt sei der allmächtige Gott.«
    Die Antwort »In Ewigkeit. Amen« verhallt im lauten Trillern der Gläubigen.
    Der Geweihte Gottes wäscht nun seine Hände in der dargebotenen Silberschale und trocknet sie an einem Tuch, das der Diakon ihm reicht, ohne ihn dabei zu berühren.
    Der Abuna weist zum Portal der Basilika. »Tretet ein in den Tempel Gottes, Euer Majestät.«
    Der König der Könige rafft seine Gewänder, steigt die Stufen hinauf, tritt über die Schwelle aus rötlichem Stein, die von den Küssen der Gläubigen glänzend glatt geschliffen ist, und schreitet von der staubigen Hitze des Platzes in die wohltuende Kühle des Heiligtums. Er durchmisst die lichtdurchflutete Vorhalle, deren Wände mit Fresken ausgemalt sind, und betritt die fünfschiffige Basilika durch das mittlere Portal.
    Er blinzelt. Dann gewöhnen sich seine Augen an die geheimnisvolle Dunkelheit. In dieser Basilika ist er elf Jahre zuvor gesalbt worden. Wie an jenem Tag während des feierlichen Rituals seiner Krönung ist die Basilika erfüllt vom betörenden Wohlgeruch des Weihrauchs und Hunderter nach Akazienhonig duftender Kerzen. Aus goldenen Gefäßen kringeln sich Weihrauchschwaden hinauf zur Decke – bewegte Ornamente aus Licht und Schatten.
    Kostbare Teppiche bedecken den Steinboden. Die Wände der Seitenschiffe sind mit farbenprächtigen Ikonen auf Pergamentrollen aus feinstem Ziegenleder geschmückt, die einen herben Duft verbreiten. Die hohen Säulen des Hauptschiffs, das vor mehr als einem Jahrtausend errichtet worden ist, sind mit Engeln bemalt, die ihre Flügel ausbreiten.
    Die bunten Brokatgewänder der Priester und die Kronen der Diakone funkeln im Licht der Butterlampen. Zwischen den Säulen der Seitenschiffe drängen sich Mönche in safrangelben Umhängen und weißen Turbanen. Sie tragen lange Gebetsstäbe im Arm. Mit einem weißen Tuch verhüllen sie ihr Gesicht, als der Sohn Davids an ihnen vorüberschreitet.
    Abuna Gabriel geleitet den Gesalbten zur Ikonenwand, deren purpurner Vorhang zur Seite geschoben ist. Der nächste Saal, dessen Decke von Säulen getragen wird, ist der Vorraum des Maqdas, des Allerheiligsten. Unter dem Portal erwartet sie Abuna Mikael. Der Patriarch verneigt sich vor dem Sohn Davids, ergreift dessen Arm und hilft ihm, vor den Stufen niederzuknien.
    Der Erwählte des Herrn beugt sich vor und berührt, andächtig ein Gebet murmelnd, die Schwelle mit seiner Stirn und seinen Lippen. Dann reicht er Abuna Mikael und Abuna Gabriel seine Hände, lässt sich aufhelfen und küsst die ehrwürdigen Ikonen auf den Wänden neben dem Portal.
    Zwei Priester treten aus der Finsternis des Allerheiligsten. Der erste trägt ein mit Brokatstoff verhülltes Tabot, auf dem
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