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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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sich das Wasser, das Brot und der Kelch mit dem Wein befinden. Der zweite hält das Matsahaf Kiddus aus Pergament und Leder an seine Brust gepresst. Sodann küsst er die Bibel und schlägt den uralten Folianten auf:
    »In jener Zeit sprach der Herr zu Moses«, liest Abuna Mikael in der heiligen Sprache aus dem Buch vor, das ihm der Diakon aufgeschlagen darbietet. »Und Gott befahl Moses: ›Haue dir zwei steinerne Tafeln, und steige zu mir auf den Berg! Und mach dir eine Lade aus Holz! Und ich werde auf die Tafeln die Worte schreiben, die auf den ersten waren, die du zerbrochen hast. Und du sollst sie in die Lade legen.‹ Und Moses machte eine Lade aus Akazienholz und hieb zwei steinerne Tafeln wie die ersten. Und er stieg auf den Berg, die zwei Tabotat in seiner Hand. Und der Herr schrieb auf die Tafeln, ebenso wie die erste Schrift, die zehn Worte, die er auf dem Berg mitten aus dem Feuer gesprochen hatte. Und der Herr gab sie Moses. Und Moses wandte sich ab und stieg vom Berg herab. Und er legte die Tabotat in die Lade, die er gemacht hatte. Und dort blieben sie, wie der Herr es ihm geboten hatte.«
    Nachdem der Abuna das Pergament andächtig mit den Lippen berührt hat, schließt der Priester das Matsahaf Kiddus und tritt zurück. Der König der Könige schlägt das Zeichen des Bundes über Stirn und Brust. Schließlich tritt er über die Schwelle in das von Butterlampen erleuchtete Sanktuarium.
    Abuna Gabriel und Abuna Mikael bleiben in der Basilika zurück. Nicht einmal den Abunas, den Patriarchen des Reiches, ist es gestattet, das Manbar unverhüllt zu sehen. Die ehrwürdige Lade aus Akazienholz, die die allerheiligsten Tabotat bewahrt, ist von mehreren Schichten purpurnen und goldenen Brokatstoffs bedeckt.
    Der Gesalbte kniet vor der Lade nieder und verneigt sich tief. Während der Wächter der Lade ein Weihrauchgefäß schwenkt und die Kapelle mit dem geweihten Duft beräuchert, hebt er den schweren Stoff an und gewährt dem Nachfolger Salomos einen Blick auf den Gottesschrein, der vor den Augen von Sterblichen verborgen bleiben muss – das Manbar, das das Symbol des Gottesbundes birgt.
    »Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem!«, flüstert Abuna Mikael ergriffen. »Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und siegreich ist er. Und er verkündet Frieden den Nationen. Und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Nil bis an die Enden der Erde.«
    Als der Sohn Davids die Hand nach der Lade ausstreckt, um sie zu berühren, hält Abuna Gabriel bestürzt den Atem an: Um Gottes willen! Der Allmächtige bestraft all die, die es wagen, seine Lade zu entweihen. Der Zorn Gottes ist fürchterlich. Für wen hält er sich – für den Messias?
    Doch der König der Könige lässt sich nicht beirren. Zart streichen seine Finger über das uralte zersplitternde Holz. Andächtig betastet er die goldenen Verzierungen. Dann hebt er den Schleier, der sein Gesicht verhüllt, beugt sich vor und küsst den Schrein Gottes.
    Abuna Gabriel atmet auf: Der Herr beschützt seinen Auserwählten aus der Blutlinie Davids! Der Herr ist ihm gnädig und vergibt ihm seinen Stolz und seine Anmaßung, die tief in seinem Glauben wurzeln, dem Bewusstsein, nach seiner jahrzehntelangen Gefangenschaft nun der Auserwählte des Herrn zu sein. Der König der Könige von Israel. Der Kaiser des neuen Zion. Der Hüter der Lade.
    Der Gesalbte hebt den Kopf und lauscht.
    Das Hufgetrappel galoppierender Pferde dringt in die Stille des Sanktuariums. Waffen und Rüstungen klirren. Befehle werden gebrüllt. Dann vernimmt er entsetzte Schreie. Vor der Basilika bricht ein Tumult aus.
    Wenige Augenblicke später stürmt ein Bewaffneter in die Basilika und drängt sich durch die Reihen der aufgeregt tuschelnden Priester und Mönche. Vor der Schwelle zum Allerheiligsten fällt er auf die Knie und drückt die schweißüberströmte Stirn auf den Boden. »Vergebt mir, Euer Majestät!«, keucht er, noch ganz außer Atem vom scharfen Ritt. Den Blick hält er gesenkt, um dem Gesalbten des Herrn nicht ins unverschleierte Antlitz zu sehen. »Die Ungläubigen greifen an! Das auserwählte Volk ist in Gefahr! Und …«, mit zitternden Fingern deutet er ins Allerheiligste, »… und die heilige Lade.«
    Der Kaiser springt auf, drängt sich an Abuna Mikael und Abuna Gabriel vorbei, die bestürzt vor ihm zurückweichen, und stürmt mit wehendem Ornat nach draußen.
    Zornig verlangt er nach seinem Schwert.

· Alessandra ·
Kapitel 1
    Auf dem Tempelberg in
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