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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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Jerusalem
    16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
    Karfreitag, 26. März 1445
    Mitternacht

    Außer Atem husche ich die Stufen hinauf zum Tempelberg. Mit der Hand am Griff meines Dolchs durchquere ich lautlos das Tor des Propheten, tauche in die Schatten und blinzele in die Finsternis.
    Wenige Schritte entfernt, am südlichen Ende des Haram ash-Sharif, schimmert die silberne Haube der Al-Aqsa wie die aufgehende Mondsichel. Im Norden ragt zwischen hohen Zypressen die goldene Kuppel des Felsendoms in den Sternenhimmel – der Halbmond an ihrer Spitze weist nach Mekka. Außer dem Zittern der Blätter im kalten Sturmwind und dem aufgeregten Zirpen der Zikaden ist nichts zu hören. Still und verlassen liegt der Tempelberg – so scheint es. Ich spähe hinüber zur weißen Marmorfassade des Felsendoms, kann den Assassino aber nirgendwo entdecken.
    Ist uns jener geheimnisvolle Mönch vom Funduk an der Via Dolorosa bis zum Tempelberg gefolgt? In der Nähe der Grabeskirche hatte mich ein Geräusch erschreckt – Metall auf Stein. Als ich mit dem Dolch in der Hand herumwirbelte, sah ich einen Mönchsritter in weißem Habit in einen finsteren Durchgang huschen. Als Tayeb und ich die Gasse erreichten, war er verschwunden.
    Auf dem Berg Zion schlägt verhalten, fast scheu, die Glocke des Franziskanerklosters und ruft die Fratres zum Gebet.
    Es ist Mitternacht.
    Fröstelnd zerre ich mein Gewand um mich, verharre reglos im Schatten und beobachte den Tempelberg.
    Die Nacht ist kühl. Und windig. Der Horizont hinter dem Schattenriss der Al-Aqsa scheint in Flammen zu stehen. Jenseits des Ölbergs zuckt ein Feuerwerk von Blitzen durch den sturmdurchtosten Himmel und erleuchtet die Wolken von innen mit infernalischem Lodern.
    »Alessandra?«, wispert Tayeb.
    Während ich zu ihm zurückkehre, streiche ich mir die langen Haare aus der Stirn. Nach dem Willen des Kalifen müsste ich blaue Kleider tragen und ein fünf Pfund schweres Holzkreuz um den Hals. Doch um kein Aufsehen zu erregen, bin ich wie eine Muslima gekleidet.
    Mein Freund ist in ein weites Gewand von leuchtendem Indigo gehüllt. Die Falten seines schwarzen Turbans, den er nach der Art der Tuareg gebunden hat, verschleiern sein Gesicht und lassen nur die dunklen Augen frei. Auf seiner Brust schimmert das silberne Tenerelt-Kreuz aus Agadez, das in Rom für ein christliches Symbol gehalten wird. Mit zusammengekniffenen Augen späht er die Treppe auf der Schuttrampe aus antiken Ruinen hinab zum Platz vor der Klagemauer. Seine Hand liegt auf dem Griff seines Schwertes.
    »Siehst du ihn?«, flüstere ich.
    Tayeb schüttelt den Kopf, ohne die Stufen, die auf den Tempelberg führen, aus den Augen zu lassen.
    Mein Blick schweift über Jerusalem, die ›Stadt des Friedens‹, um die so viele ›heilige‹ Kriege geführt worden sind. Jeruschalajim, die Schöne. Al-Quds, die Heilige. Die Stadt Davids und Salomos, in der Jesus gekreuzigt wurde und Mohammed in den Himmel ritt. Steingewordenes Symbol des Glaubens – und des religiösen Fanatismus. Kein Fußbreit dieser Stadt, der nicht im Namen Gottes, Jahwes oder Allahs mit Blut bespritzt ist, keine Handbreit, die nicht auf eine Prophezeiung oder eine Szene aus der hebräischen Bibel, dem Koran oder den Evangelien verweist. Kein Atemzug, der nicht von einem Gebet oder einer Lobpreisung begleitet wird.
    Jenseits der südlichen Stadtmauer erkenne ich den Schatten des Berges Zion mit dem Grab König Davids. Im Christenviertel schimmert matt die Kuppel der Grabeskirche. Und auf der Höhe jenseits des engen Gassenlabyrinths des jüdischen Viertels ragt trutzig die Zitadelle in den Sternenhimmel, einst prunkvoller Palast von König Herodes, dann römische Garnison, byzantinisches Kloster und Kreuzfahrerburg, nun Sitz des Vizekönigs von Damaskus, während er in Jerusalem ist – Al-Quds gehört zum Herrschaftsgebiet des mächtigen Emirs von Dimashq.
    Die Zitadelle ist von Fackeln erleuchtet. Die feurige Musik und das trunkene Gelächter eines Gelages wehen zu mir herüber – der Wein scheint in Strömen zu fließen. Gibt der Vizekönig, der sich auf Pilgerfahrt in Jerusalem befindet, einen Empfang für Prinz Uthman, den Sohn des Mameluckensultans, der vor wenigen Tagen von seiner Hadj nach Mekka eingetroffen ist? Yared al-Gharnati, als Vertrauter des Sultans die schattenhafte Eminenz des Reiches, soll dem hoffnungsvollen Getuschel im jüdischen Viertel zufolge den Prinzen nach Jerusalem begleitet haben.
    Trotz meiner Anspannung genieße ich das
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