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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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Narbe eines Schwerthiebs zerspaltet sein Gesicht von der Stirn bis zu den verkniffenen Lippen. Doch nicht das Gesicht des Mannes fasziniert Leonardo, sondern der weiße Habit, den er trägt.
    »Was wollt Ihr?«, flüstert Leonardo mit tonloser Stimme – er ahnt es bereits.
    Der Mann mit der Statur eines Kriegers sagt es ihm.
    Leonardo ringt sich zu einer Lüge durch: »Ich weiß nicht, wovon Ihr …«
    »Wo ist die Lade?«, herrscht ihn der Mönch im weißen Habit an. »Sie befand sich im Besitz der Templer. Jacques de Molay hat sie 1307 nach Paris gebracht. Zusammen mit dem Templerschatz. Seit den Inquisitionsprozessen ist sie verschwunden. Sie muss die Dokumente enthalten. Wo ist sie?«
    »Ich weiß es nicht.« Leonardo weicht einen Schritt zurück.
    Er muss Alessandras Leben schützen! Jeden Augenblick kann sie die Tür öffnen und hereinkommen. Sie weiß, wo ihr Vater, der Inquisitor, die Lade der Templer gefunden hat. Und den aramäischen Papyrus.
    Der Ritter Christi richtet einen Dolch auf Leonardos Brust. »Wo ist die Lade?«
    Leonardo schweigt verbissen. Doch in seiner Todesangst bleibt sein Hilfe suchender Blick unwillkürlich einen Lidschlag zu lang an einer Truhe hängen, die halb verborgen hinter einer Reihe großer Folianten im Bücherregal ruht.
    Der Gotteskrieger, der den alten Mönch nicht aus den Augen gelassen hat, wendet sich um und sieht die Bücherkiste.
    »Muito obrigado!«, murmelt er und sticht zu.
    Mit weit aufgerissenen Augen stolpert Leonardo rückwärts und ringt verzweifelt röchelnd nach Atem. Ein Gurgeln entringt sich seiner Kehle. Blut tritt auf seine Lippen, rinnt ihm über das Kinn und tropft auf seinen Habit. Dann stürzt er zu Boden und bleibt mit ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken liegen.
    Der Todesengel zieht die Klinge aus Leonardos Brust und wischt das Blut ab. Sodann bekreuzigt er sich, wispert »Domine Jesu Christe, libera me ab iniquitatibus meis« und küsst andächtig seine Finger.
    Er kniet sich neben den Sterbenden, der ihn entsetzt und erschrocken zugleich anstarrt, ergreift die rechte Hand des Fraters und malt mit dem Finger das heilige Symbol in dessen Handfläche. Dann nimmt er die linke Hand und wiederholt die Geste. Sanft legt er seine Hand auf die Stirn des Todgeweihten, als ob er ihm neben dem Sterbesakrament auch Trost spenden wolle. Mit dem Daumen malt er drei Kreuze auf die Stirn. »Benedicat tibi Dominus et custodiat te. Ostendat Dominus faciem suam tibi et misereatur tui. Convertat Dominus vultum suum ad te et det tibi pacem«, murmelt er in beruhigendem Ton und wischt dem Sterbenden eine Träne aus dem Augenwinkel. »Vergib mir, Bruder in Christo.«
    Er erhebt sich und eilt zum Bücherregal mit der Truhe, in der er endlich die uralte Lade aus Akazienholz findet. Seine Miene zeigt keine Regung, als er eine große und schwere Papyrusrolle mit verblasster aramäischer Schrift aus der Lade nimmt, die er augenscheinlich nicht lesen kann. Wortlos richtet er sich auf und verlässt den Raum.
    Leonardo hört, wie der Assassino an Alessandras Arbeitstisch unvermittelt stehen bleibt, um einen Blick auf die aufgeschlagenen Bücher zu werfen, die sie zur Vorbereitung ihrer Schatzsuche in Jerusalem gelesen hat. Dann folgt ein Rascheln und Kratzen, als würde er ihre Aufzeichnungen und die Folianten von Flavius Josephus zusammenraffen und mitnehmen. Alessandras Notizbuch, das aufgeschlagen unter dem Tisch liegt, übersieht er in der Dunkelheit. Dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
    Unter großen Anstrengungen hebt Leonardo den Kopf und starrt auf die Wunde in seiner Brust.
    So viel Blut … Sein Habit ist nass von seinem Blut. Er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Ermattet lässt er sich zurücksinken und schließt die Augen. Er friert und zittert. Keuchend ringt er nach Atem, und er beginnt zu husten. Er wird an seinem Blut ersticken.
    Nur mit Mühe hebt er die rechte Hand und taucht den Finger in die Wunde. Er muss Alessandra warnen. Der Assassino hat Luca d’Ascolis Buch gelesen, das Urteil des ›Richters Gottes‹ über die Tempelritter. Lucas Tochter ist in Lebensgefahr!
    Mit seinem Blut malt Leonardo ein Symbol auf den Steinboden. Das blutrote Kreuz, das er auf dem weißen Mantel gesehen hat. Das ›Kreuz der Unschuld‹.
    Es bleibt unvollendet.

· Intermezzo ·
    Maryam Tseyon
    Fasika, 2. Miyazya 6945
    Nach Sonnenaufgang

    »Komm nicht näher! Zieh die Sandalen von deinen Füßen, denn die Stätte, die du betreten willst, ist heiliger
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