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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ERSTES KAPITEL
    Alessa stand im Wasser des Flusses, das an dieser Stelle tief genug war, um ihr bis an die Kniekehlen zu
reichen, und reißend genug, um kleine, schaumige Wirbel hinter ihren Beinen zu bilden. Sie hatte sich weit
nach vorne gebeugt, damit sie sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schöpfen konnte.
Ihre Haltung erfüllte Andrej mit leiser Sorge. Vermutlich war der Flussgrund mit glatt polierten Steinen
bedeckt. Steine, auf denen ein einziger Fehltritt oder eine unbedachte Bewegung fast unweigerlich zu
einem Sturz führen mussten. Das Wasser war nicht tief, weder dort, wo das Mädchen stand, noch weiter
zur Mitte hin. Andrej konnte deutlich Steinformationen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aus
dem Wasser ragten - offenbar eine von Menschenhand angelegte Furt, auf der man das Gewässer mit ein
wenig Geschick trockenen Fußes überqueren konnte. Aber der Fluss besaß an dieser Stelle auch eine
gefährliche Strömung, und Alessa war keine besonders gute Schwimmerin. Ich sollte hinunter gehen und
sie warnen, dachte er, oder besser gleich …
»Andrej?« Abu Duns Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
Das Mädchen dort unten war nicht Alessa. Alessa war seit mehr als einem Jahr tot, und er sollte endlich
aufhören, in jeder jungen Frau, die ihr auch nur entfernt ähnelte, die junge Unsterbliche zu sehen. Das
Mädchen dort unten hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihr. Es war deutlich jünger; ein Kind, das bald zur
Frau werden würde. Es hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes, rabenschwarzes Haar, während
Alessa…
Andrej runzelte die Stirn. Er versuchte, sich an die Farbe von Alessas Teint zu erinnern, aber es gelang
ihm nicht. Ebenso wenig, wie er sich an ihr Gesicht erinnern konnte.
»Andrej, was treibst du da? Seit wann findest du Gefallen daran, dich im Gebüsch zu verstecken, um
nackten Bauernmädchen beim Baden zuzusehen?«
»Sie ist nicht nackt!«, antwortete Andrej. Nach einem Moment fügte er seufzend hinzu: »Und nenn mich
nicht Andrej!«
Abu Duns ebenholzfarbenes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ganz wie Ihr befehlt,
Herr. Oder wäre Euch Sahib lieber?« Für einen Moment wurde sein Grinsen noch breiter, dann trat er an
Andrejs Seite und sah mit gespielter Konzentration zum Fluss hin. »Ihr habt Recht, oh allergnädigster Herr
und Meister. Sie ist nicht nackt.«
»Andreas«, sagte Andrej, ohne auf Abu Duns Worte einzugehen. »Wir hatten uns doch geeinigt, dass ich
ab sofort Andreas heiße.«
»Ganz wie Ihr befehlt, oh Bewunderungswürdiger.« Abu Dun neigte demutsvoll das Haupt und tat so, als
griffe er nach Andrejs Hand, um sie zu küssen. »Und wie habt Ihr in Eurer unermesslichen Weisheit
beschlossen, mich in Zukunft zu nennen, oh Herr? Marianne vielleicht? Oder Theresa?«
»Auf jeden Fall werde ich nur respektvoll von dir sprechen«, erwiderte Andrej. »Du weißt doch: Man
spricht nicht schlecht über Tote.«
Abu Dun feixte unbeeindruckt weiter, und Andrej ermahnte sich, das sinnlose Spiel nicht fortzuführen. Er
konnte dabei nur verlieren.
Es war mehr als einen Monat her, dass er sich entschieden hatte, nicht mehr seinen ursprünglichen Namen
zu benutzen, sondern die hier zu Lande gebräuchliche Form. Fremde erweckten in diesen Zeiten, die
denkbar schlecht waren, deutlich mehr Misstrauen als Neugier. Und fremden Kämpfern, die aus dem
Osten kamen - der Richtung, aus der sich der Krieg in das Land hineinfraß - wurde erst recht mit Argwohn
begegnet. So war Andrej aus der Rolle des Kriegers, der durch das Land zog, in die des fahrenden
Händlers und Kaufmanns geschlüpft; eine Verkleidung, die ebenso einfach
wie unerwartet erfolgreich gewesen war. Was Abu Dun aber nicht daran hinderte, ihn deswegen zu
verspotten.
»Wir sollten das Mädchen fragen«, sagte Andrej. »Vielleicht hat es was von den Zigeunern gehört. Sie
müssen hier irgendwo sein!«
Ein ganzes Jahr suchten sie jetzt schon nach der Sinti-Sippe, von der Alessa erzählt hatte, ohne ihr bisher
auch nur nahe gekommen zu sein. Sie hatten fast ein Dutzend Zigeunerfamilien gefunden, aber in keiner
von ihnen lebte die Puuri-Dan, die Alessa erwähnt hatte. Vielleicht jagten sie einem Phantom hinterher.
Und manchmal fragte sich Andrej gar, ob es Alessa je gegeben hatte.
»Und warum?«, unterbrach Abu Dun seine Gedanken. »Wieso müssen sie in der Nähe sein, Andreas?« Er
sprach den Namen wie Andreasch aus, zweifellos um ihn zu ärgern. »Allein, weil Ihr es so wünscht,
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