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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Hinrichsen zu schaffen? Ich kenne die Frau doch gar nicht. Und woran ich absolut nicht interessiert bin, sind Klatsch- und Tratschgeschichten aus der alten Heimat, kapiert?«
    »Aber sie …« Mama schnappte nach Luft.
    »Was?«
    Es blieb ein paar letzte Sekunden lang still, dann sagte sie, als würde sie daran zerbrechen:
    »Sie ist vorgestern im Krankenhaus in Kiel an AIDS gestorben.«
    »Ja, und?«
    Ich konnte immer noch keine Verbindung zu mir sehen.
    »Das passiert nicht nur bei uns Homos, sondern auch bei euch Heten. Glaubst du wirklich, nur weil ihr hetero seid, bleibt ihr davon verschont? Ich erzähl dir jetzt mal ein Geheimnis: Die Schwulenpest hat’s nie gegeben, sie war von Anfang an schon eine Menschenpest.«
    Ich genoss meinen Ärger regelrecht, genoss es, meine Mutter auf diese Art eins reinwürgen zu können. Nach ein paar aggressiven Takten Pause, wiederholte ich meine Frage: »Also, warum erzählst du mir das? Das interessiert mich alles nicht.«
    »Aber sie war doch die Frau deines Tennistrainers …«
    »Und? Das ist lange her.«
    »Aber du warst doch mal mit ihm zusammen.«
    »Auch das ist lange her!«
    »Und … und … ihr habt miteinander geschlafen, nicht wahr?«
    Langsam verstand ich, worauf sie hinauswollte. Sofort stürzten Bilder auf mich ein, von mir und Karsten, wir beide unter der Dusche des Vereinsheims, wir beide in Heide, ich auf ihm sitzend, auf seinem gewaltigen Schwanz reitend, der mir erst den Arsch aufreißt und dann in mir, in meinen verwüsteten Eingeweiden kommt.
    »Habt ihr miteinander geschlafen?«
    Plötzlich konnte ich ihr nicht mehr antworten.
    »Nun sag schon«, befahl sie mir zu antworten. »Habt ihr miteinander geschlafen, ja oder nein?«
    »Ja«, gestand ich flüsternd, als könnte die Welt einstürzen, wenn ich zu laut redete. »Das weißt du doch. Das kannst du dir doch denken.«
    »Nein, nein, nein«, geriet meine Mutter gleich wieder ins Jammern.
    Das aber machte mich plötzlich stinkwütend. Wie konnte sie es sich anmaßen, über so etwas wie Sex zwischen Liebenden zu heulen, wenn das doch die natürlichste Sache der Welt ist? Ich hatte doch nichts Schlimmes getan, ich hatte es gewollt! Wie konnte sie mich nur so beleidigen, ausgerechnet jetzt, in diesem heiklen Moment?
    »Ja, gottverdammt! Wir hatten Sex!«, schrie ich sie durch den Hörer an, dass es nur so durch den Draht dröhnte. »Wir hatten Sex, und zwar mehr als einmal. Und es hat Spaß gemacht!«
    »Dann musst du dich auch testen lassen. Mein Gott, vielleicht hat er dich auch angesteckt.«
    »Wer?«
    »Karsten Hinrichsen!«
    Ich verstummte. Erst jetzt begriff ich wirklich, was meine Mutter befürchtete, was sie zu Recht befürchten musste. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht besonders viel über Aids, nur grob über seine Ansteckungswege Bescheid und über die Risikogruppen: Männer, die mit Männern ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, Fixer, die sich Spritzen teilen, Bluter. Ehemänner mit Frauen und Kindern, die sich ab und zu mal einen mann-männlichen Seitensprung gönnen, zählte ich nicht dazu, die lebten ja in stabilen Verhältnissen. Da konnte doch nichts passieren! Diese Seitensprünge liefen doch zwangsläufig vollkommen anonym ab. Und so verwechselte ich Anonymität mit Sicherheit. Dass sich mein Mann, Karsten, auf Autobahnraststätten und in dunklen Parks rumtrieb, um seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, schnell, stumm und ohne sich unter diesen Bedingungen groß über die Spielregeln austauschen zu können, weil die Furcht vor der Entdeckung ihm die Lippen versiegelte und weder Sorgfalt noch die Formulierung von Bedenken zuließ, dass er also die Personifizierung eines Aids-Risikokandidaten darstellte, das wollte ich gar nicht wissen. Dagegen wehrte ich mich innerlich. Diese Erkenntnis verletzte mich schwer, mindestens ebenso schwer wie damals sein ablehnendes, angsterfülltes Verhalten nach dem Analverkehr in Heide. Hatte er mich also auch auf diese Art betrogen? Bin ich ihm also auch hier auf den Leim gegangen, diesem Schwächling, diesem Idioten, diesem verseuchten Verführer?
    Und dann kam gleich der andere Gedanke: Ich hatte ihn gewollt, hatte alles das gewollt!
    »Du musst dich unbedingt testen lassen«, hörte ich meine Mutter zum Gott weiß wievielten Mal wiederholen. »Er kann dich angesteckt haben.«
    »Das muss doch nicht sein«, stammelte ich nur.
    »Doch, du musst dich so schnell wie möglich testen lassen«, insistierte sie.
    »Aber du weißt doch gar nicht, ob sie
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