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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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lasse, Licht kommt nur aus dem Flur und von der Stadt draußen vor den raumhohen Fenstern, sehe ich auf dem kaum je dafür genutzten Esstisch aus Mahagoni am anderen Ende des Raumes eine Mappe liegen. Es ist der Ordner mit den Zeitungsartikeln aus aller Welt über mich, den ich angelegt habe, wobei ich in doppelter Chronologie vorgegangen bin und eine Abteilung, die wesentlich größere natürlich, die über die Jahre hinweg erschienenen guten Kritiken über mich enthält, während die andere, die viel, viel schmalere, die schlechten Berichte über mich enthält. Manchmal hole ich diesen Ordner hervor und blättere darin herum, weil es mich amüsiert und manchmal auch beruhigt. Vorgestern Nacht, als ich keine Ruhe fand, hat es leider weder das eine noch das andere zu tun vermocht und mir erst den letzten Schubs hinaus vor die Tür versetzt.
    Schwer wie ein Sack vergammelter Kartoffeln erhebe ich mich, schlurfe zum Tisch herüber und werfe noch einen Blick auf die Sammlung. Ein Artikel aus der
Neuen Zürcher Zeitung
ist aufgeschlagen, der sich anlässlich der ersten ›Art Basel‹, auf der mein Galerist mit ein paar Werken aus meiner ›torture porn origins‹-Serie vertreten war und einen riesigen Reibach gemacht hat, kritisch mit dem Hype auf dem Kunstmarkt und den daraus resultierenden völlig überteuerten Preisen für Kunstwerke auseinandersetzt und ausgerechnet mich als Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation missbrauchen muss: »So bleibt abzuwarten, was von diesem Künstler wirklich übrig bleiben wird, wenn die Jahre den Ruch des Skandals und der Provokation abgewaschen haben werden und die Sicht frei wird auf den wahren künstlerischen Gehalt seiner Werke. Erst dann werden wir wissen, was er wirklich wert ist.«
    Gleich wieder zornig schlage ich die Mappe zu und gehe in die Küche.
    Auf dem Tisch liegt benutztes Geschirr und Besteck, von dem ich kaum noch sagen kann, wann genau ich es eigentlich gebraucht habe. In der Spüle stehen Pinsel in Reinigungslösungen und verströmen einen leicht alkoholisch scharfen Geruch. Der Kühlschrank ist so gut wie leer, auf jeden Fall ist nichts darin, worauf ich gerade Appetit habe. Dabei verspüre ich tatsächlich langsam Hunger. Kein Wunder, meine letzte Mahlzeit war das Frühstück heute früh in Wyk auf Föhr, eingenommen in einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Ich könnte mir was zu essen bestellen, aber irgendwie will ich nicht, bei jedem einzelnen Lieferservice, dessen Flyer an meinem Kühlschrank hängt, habe ich in den letzten Jahren definitiv schon zu oft gegessen. Ich könnte in ein Restaurant gehen, Regen hin oder her, dadurch ließe sich auch die Zeit viel besser totschlagen.
    Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, hänge meine Jacke auf und bringe meine Sporttasche ins Schlafzimmer, wo ich sie auspacke, in den Schrank lege, was in den Schrank gehört, und in mein ganz persönliches Badezimmer bringe, was in mein ganz persönliches Badezimmer gehört. Die neue Zahnbürste stecke ich zu der alten in den Zahnputzbecher, was irgendwie komisch aussieht, so als wohnte noch eine zweite Person mit mir hier. Als wäre Hannes noch da. Oder doch eher Klaus. Oder irgendeiner aus dem Heer der anderen. Ich nehme meine alte Zahnbürste aus dem Becher und werfe sie in den Mülleimer. Dann gehe ich zurück in mein Schlafzimmer und setze mich aufs Bett. Ich bin müde und weiß doch genau, dass ich jetzt noch nicht schlafen kann. Ich darf noch nicht schlafen, nicht bevor ich …
    Ich gehe rüber in mein Atelier. Hinter der schweren, schalldichten Tür herrscht diese gravitätische Stille, die ich so liebe, die diesen Ort zu etwas ganz Besonderem macht, was, so meine ich jedenfalls, auch in meine Werke einfließt. Nicht einmal der Regen, der hier gegen alle Fenster prasselt, kann sie aufbrechen, sondern muss sich ihr unterordnen. Ich mache kein Licht an, das Zwielicht des städtischen Herbstabends reicht aus, um die Konturen der Staffeleien im Raum, meiner Werkbank an der Wand gegenüber und die an die Wände gelehnten bespannten und teilweise schon bemalten Rahmen zu erkennen. Es ist sogar hell genug, um auf manchen der neuen Werke die dargestellten Figuren in ihrer Gewalttätigkeit zu sehen – und die Löcher, wo ich ihnen die Genitalien oder die Gesichter herausgeschnitten habe. Von wegen wertlos! Über diese Kunst wird man in tausend Jahren noch in furchtsames Entzücken geraten. Ich bin ein großer Künstler und werde es auch immer sein! Größer noch als mein einziges
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