Die unsicherste aller Tageszeiten

echtes Idol William Adolphe Bouguereau, dessen Meisterwerk
Dante et Virgile aux Enfers
dort als Posterabzug an der Wand hängt. Das ›natürliche‹ Licht schmeichelt ihm besonders gut, wieder einmal wirken die beiden nackten Männer im Zentrum des Geschehens so, als würden sie sich lieben und nicht gegenseitig zu entleiben versuchen. Welch wunderschöne Illusion. Wenn nur der Teufel nicht wäre, der über allem schwebt und Dante und Vergil sein diabolisches, zähnefletschendes Grinsen schenkt und die Wahrheit verrät. Er weiß alles, es ist schließlich sein Werk, und er genießt es in vollen Zügen. Und niemand kann was dagegen machen.
    »Morgen«, verspreche ich ihm. »Morgen.«
    Ich beschließe, doch essen zu gehen. In Nullkommanichts stehe ich wieder im Fahrstuhl und lasse mich nach unten bringen, auf die Ebene der gemeinen Leute. Leider gibt es hier in der Gegend kaum noch Restaurants oder Imbisse, die nicht der gehobenen Preisklasse angehören und Einlass nur unter Berücksichtigung des entsprechenden Dresscodes gewähren. Den ich momentan nicht erfülle. Also muss ich wieder durch die Straßen und den Regen laufen, denn jetzt ist natürlich auch kein Taxi zur Hand, aber irgendwie tut das auch gut, kühlt mich ab. Es bringt mich wieder zur Besinnung und löscht die hochgekochte Furcht etwas. Das wird eine so harte Nacht, trotz unendlicher Müdigkeit werde ich sie kaum schlafend verbringen. Ich werde mich bewegen müssen, den zähen Minuten vorauslaufen und sie so zwingen, hinter mir herzulaufen, damit sie schneller vergehen. Damit wir zusammen morgen den nächsten Tag erreichen, den Start in die neue Woche.
    Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und niemand weiß besser als ich, wie viele Möglichkeiten es gibt, unterwegs noch wieder von ihm abzukommen, in irgendeinen dunklen Raum zu geraten und dort ganz nackt verloren zu gehen.

BIOGRAPHISCHES

Thomas Pregel
    Geboren 1977 in Bad Segeberg, Schleswig-Holstein. Nach dem Abitur Umzug nach Berlin, um Judaistik, Soziologie und Mittelalterliche Geschichte zu studieren. In seiner Magisterarbeit beschäftigte er sich mit Marcel Proust – diese Arbeit veröffentlichte er im Jahr 2009 auch als Buch unter dem Titel »Lust und Angst. Über die sexuelle Orientierung des Ich-Erzählers in Marcel Prousts ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹«.
    Thomas Pregel ist freier Lektor/Redakteur und lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Kurzgeschichten und Theaterstücke und ist auch in Netz unter www.thomaspregel.de zu finden.
    In der Anthologie ›Liebe und andere Schmerzen – 16 Herzschläge‹, ist er vertreten mit der Kurzgeschichte ›Dampfbadlotterie‹, die beim Größenwahn Verlag im Juni 2013 erschien.

Lenaustraße 97
    60318 Frankfurt
    Tel.: +49 (0)69 48 00 29 92
    Mobil: +49 (0)171 28 67 549
    www.groessenwahn-verlag.de