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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Verletzung hatte ich mir bereits zugezogen, nur wusste ich eben noch nichts von ihrer Tragweite. Im Nachhinein muss ich leider sagen, dass selbst damals meine Unschuld nur mehr eine behauptete Unschuld war. Immerhin schützte mich damals noch meine Unwissenheit vor dem alles grau eintrübenden Verantwortungsgefühl, mit dem ich heute leben muss.

KAPITEL 1
    Diese Reise ist ein einziger schuldiger Rausch, mehr noch, ein schlechter Trip. Oder vielmehr nur die Fortsetzung eines schlechten Trips, als wäre ich seit Jahr und Tag schon abhängig von diesem seltsamen Nervengift, das mich betäubt und zugleich aufzehrt. Wie ein Süchtiger bin ich und wünsche mir deshalb trotz aller Beschwernisse, aller üblen Begleitumstände, diese Reise möge mich weit, ganz weit davontragen in eine bessere, reinere Welt und am besten niemals mehr zurückkehren lassen.
    Stattdessen beginnt meine Reise mit einem schlechten Scherz.
    Ich stehe unter den hohen, sich zur Kuppel aufwölbenden Stahlträgern und vom Ruß längst vergangener Eisenbahnzeiten schmutzigen Fensterflächen des Berliner Ostbahnhofs und warte und warte auf die Einfahrt meines verdammten Zuges. Hier in Berlin ist der Herbst noch mild – in all den Jahren, die ich jetzt schon hier lebe, habe ich es eigentlich nie anders erlebt –, trotzdem trage ich eine Winterjacke und dazu einen voluminösen Wollschal, den mein alter Freund Klaus gerne als prätentiös bezeichnet, als passend für »einen berühmten Künstler wie dich«. Er ist eingefärbt in knallige bunte Farben, die weithin leuchten, ich muss ihn mir mehrmals um den Hals wickeln, damit seine Enden nicht über den Boden schleifen, und passt so gar nicht zu meinem übrigen Kleidungsstil, der eher teuer und dezent ist. Aber als ich ihn damals gesehen hatte, wollte ich ihn sofort haben, vielleicht wegen des Kontrastes – also kaufte ich ihn mir. Und jetzt stehe ich hier und schwitze wie ein Schwein. Auf Föhr aber, und dort will ich hin, ist es viel, viel kälter. Dort ist es windig und feucht und sind dicke Sachen angebracht.
    Natürlich hätte ich die dicken Klamotten auch in meine Reisetasche stopfen und erst vor Ort anziehen können, dann hätte ich während meiner Reise meine übliche Herbstjacke, ein todschickes Ding von dem schwedischen Modeschöpfer Christian Berg, getragen. Warum bin ich nicht darauf gekommen, als ich am Morgen meine Sporttasche mit den drei weißen Streifen an der Seite gepackt habe? Ganz einfach: wegen meiner Eile. Weil ich vor lauter Hast und Überstürzung nicht einmal fähig gewesen bin, auch nur die grundsätzlichen Dinge, die man sonst für einen Aufenthalt fern von zu Hause so mitnimmt, einzupacken. Ich weiß jetzt schon, dass ich meine Zahnbürste vergessen habe, und will gar nicht wissen, was noch alles.
    Ich fühle mich wie bestraft, von den Umständen meiner Reise ebenso wie von meiner Vergesslichkeit. Von meiner Kopflosigkeit, genauer gesagt. Oder »Schwanzgesteuertheit«, wie es Hannes wohl nicht ganz zu Unrecht nennen würde. Wenn ich letzte Nacht – und all die anderen Nächte davor – besser aufgepasst hätte, wenn ich nur einmal »Nein« oder wenigstens »Nicht ohne« gesagt hätte, dann hätten mich nicht wieder diese Schuldgefühle aufgefressen und in die Krise gestürzt, aus der ich nun zu entfliehen suche. Wieder einmal habe ich mich wie ein Verbrecher verhalten, habe ich etwas Schlimmes getan, eine weitere Sünde in einem langen, langen Sündenregister, für das ich irgendwann Buße tun muss. Das weiß ich. Aber darauf kann ich nicht warten, dem will ich mich nicht stellen. Also fliehe ich – und empfange meine Strafe eben in dieser Form: ein schwitzendes Etwas, ein unfertiger Fahrgast, der von der Deutschen Bahn verhöhnt wird.
    Tausenderlei Geräusche schwirren in der Luft umher, zerschellen an den Stahlträgern und regnen in scharfen Scherben auf mich herab, in meine Ohren, schneiden sich durch meine Trommelfelle und dringen in mein Gehirn ein. Das leidet aber noch an dem Kater von letzter Nacht, an diesem Übermaß an Alkohol und besinnungslosem Verlangen. Das Kreischen der an- und abfahrenden Fernzüge, der Regional- und S-Bahnen, das Scheppern der Lautsprecherdurchsagen und das Flirren des Geplappers der Leute weckt ungute, noch allzu frische Erinnerungen an das
Schwuz
, die laute Musik, die schönen tanzenden Männer und den einen hinter mir in der engen Toilettenkabine, sein keuchender Bier- und Zigarettenatem an meiner Wange. So wenige Stunden erst her, und
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