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Lenke meine Fuesse Herr

Lenke meine Fuesse Herr

Titel: Lenke meine Fuesse Herr
Autoren: Christian Wittenberg
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30 . Juli 2005
Früher Abend

    „Eigentlich wollte ich ja schon vor Stunden Quartier machen, den Tag beenden. Doch irgendwie laufen meine Füße weiter, trotz der Schmerzen, trotz meiner Müdigkeit und Erschöpfung. Ich möchte mich neben dem Weg in den Wald werfen, den Eukalyptuswald, der nach Hustenbonbons riecht, möchte schlafen, ausruhen und morgen früh frisch und stark mein Ziel erreichen. Weit über 40 Kilometer bin ich heute schon gegangen!
    Und da sehe ich es: Der Weg vor mir ist schierer Glanz! Es leuchtet und glitzert, es funkelt und scheint, als hätte man Diamanten vor mir ausgeschüttet. Ich versuche, diesen funkelnden Weg zu fotografieren, doch sobald ich stehen bleibe, erlischt das Glitzern — und gehe ich weiter, lebt es wieder auf. Mir wird ganz andächtig: Ist dies der Lohn für den weiten Weg, den ich gegangen bin? Ein Teppich von Millionen Juwelen, der vor mir ausgerollt wird, Lohn für die Mühen und Strapazen der letzten Monate, Aufforderung, nicht stehen zu bleiben: Ultreia, weiter!
    Mein Verstand sagt mir, dass hier die tief stehende Sonne auf den Glimmerplättchen des verwitterten Granits, aus dem der Straßenstaub besteht, funkelt, doch es ist viel schöner, sich so belohnt zu glauben.
    Eine Ortschaft mit verfallenden, niedrigen Steinhäusern. Eine Radiostation, Campingplätze, ich gehe neben der Teerstraße und das Funkeln vor mir zieht mich weiter. Jetzt ein freier Platz, mit Müll übersät, auf einem Hügel ein großes Denkmal: Monte Gozo! Ich setze mich auf die Stufen des Pilgermonuments und lasse meine Gedanken zurückschweifen: Wie komme ich dazu, hier in der Abendsonne zu sitzen und mit Tränen in den Augen auf eine Stadt hinabzustarren, von der ich vor dreißig Monaten noch nicht einmal etwas gewusst habe? Und das nach einem Vierteljahr Fußmarsch quer durch halb Europa?“
    Mit diesen Sätzen pflege ich den Vortrag zu beginnen, wenn ich über meinen Pilgerweg nach Santiago de Compostela berichte. Und diese letzte Frage habe ich mir selbst immer wieder gestellt, sie wurde und wird mir immer wieder gestellt: Warum pilgert ein evangelischer Christ nach Santiago?

    Im Sommer 2003 lag ich mit einer bösen, hochfiebrigen Infektion einige Tage im Krankenhaus. Als ich wieder einigermaßen bei Sinnen war, hatte ich ausgiebig Muße zum Fernsehen — was ich sonst selten tue. Dabei geriet ich an einen Bericht über den Jakobsweg. Und als ich den Fernseher ausmachte, stand für mich irgendwie fest: Diesen Weg werde ich gehen.
    Selbstverständlich würde ich von meiner Haustür aus bis Santiago, nein bis zum Kap Finisterre laufen, und zwar wie die Pilger des Mittelalters in einem Stück. Auf den Gedanken, abschnittsweise zu gehen oder irgendwo auf der Strecke einzusteigen, kam ich gar nicht.
    Es dauerte noch ein Jahr, bis aus dem Plan ein konkretes Vorhaben wurde. Glücklicherweise war ich zeitlich unabhängig und Rückhalt gab mir meine Frau Silvia. Ich habe mit ihr sehr bald über mein Vorhaben gesprochen, halb in der Hoffnung, sie werde mir diese Idee ausreden, doch diese wunderbare Frau sagte nur: „Wenn du das tun willst, dann tu es!“ Und sie hat mir in jeglicher Hinsicht bei der Vorbereitung und auch während der drei Monate, die ich unterwegs war, geholfen. Ich kann ihr dafür nicht dankbar genug sein.
    Doch auch sie hat gefragt, weshalb ich diesen Weg gehen will — hat mich gezwungen, mir über meine Beweggründe klar zu werden. Denn nicht jeder macht sich auf diesen Weg und bei mir ist die Verehrung eines Apostelgrabes ganz bestimmt kein Grund gewesen, nach Santiago zu pilgern. Schließlich stamme ich aus einem sehr konfessionsstrengen lutherischen Theologenhaushalt — mein Vater war Dozent an einer theologischen Hochschule — und Heiligenverehrung, Wallfahren, Pilgern war für mich etwas Exotisches, fast so fremd wie die Hadsch eines gläubigen Muslimen. Zudem war mir im Laufe der Jahrzehnte mein Kinder- und Konfirmandenglaube weitgehend abhanden gekommen — erst in den letzten beiden Jahren hatte ich über das Singen in der Kantorei meiner Heimatgemeinde wieder einen Zugang zu Glauben und Kirche gefunden.

    Weshalb also habe ich mich auf den Weg gemacht?

    Da war erst einmal das Gefühl, gerufen zu sein. Nicht vom heiligen Jakob — dazu bin ich, bei aller ökumenischer Offenheit, zu bewusst evangelisch. Doch irgend etwas (oder soll ich sagen: jemand?) rief mich auf diesen Weg, mich persönlich, und ich wusste, dass ich ihn allein gehen sollte.
    Wichtig war das „alleine
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