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Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Titel: Das Begräbnis des Monsieur Bouvet
Autoren: Georges Simenon
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    Der Sprengwagen fuhr vorüber, die Walzenbürste wischte knirschend das Wasser über den Asphalt, und es sah aus, als habe die Hälfte der Fahrbahn einen dunklen Anstrich erhalten. Ein großer gelber Hund hatte eine winzige weiße Hündin bestiegen, die unbeweglich alles über sich ergehen ließ.
    Der alte Herr trug eine helle, fast weiße Jacke, wie man sie in den Tropen trägt, und einen Strohhut.
    Die Dinge nahmen ihren Platz ein wie zu einer Apotheose. Um die Türme von Notre-Dame flimmerte hoch oben in der Luft die Hitze wie ein Heiligenschein, und neben den Wasserspeiern hockten die Spatzen – von der Straße aus kaum sichtbare Statisten. Ein Zug Lastkähne hatte mit einem Schlepper ganz Paris durchquert, und der Schlepper senkte seinen Schornstein mit dem weißgoldenen Dreieck, als er tutend unter dem Pont Saint-Louis hindurchfuhr.
    Die Sonne breitete sich aus, fett und üppig, flüssig und golden wie Öl, und ihr Widerschein lag auf der Seine, auf dem vom Sprengwagen nassen Pflaster, einer Dachluke und einem Schieferdach auf der Ile Saint-Louis. Dumpfes, kraftvolles Leben ging von allem aus. Die Schatten waren violett wie auf den Bildern impressionistischer Maler, die Taxis auf der weißen Brücke von kräftigerem Rot, die Autobusse von grellerem Grün.
    Ein leichter Wind strich durch das Laub eines Kastanienbaums, und entlang der Kais an der Seine war es wie ein Zittern, das immer mehr zunahm, wollüstig, ein erfrischender Hauch, der die an die Kästen der Bouquinisten gehefteten Stiche emporflattern ließ.
    Von sehr weit her, aus allen Teilen der Welt, waren Menschen gekommen, um diesen Augenblick mitzuerleben. Auf dem Platz vor der Notre-Dame standen Reisebusse, einer neben dem andern, und ein kleiner Mann schrie aufgeregt in ein Megaphon.
    Etwas näher bei dem alten Herrn und der dicken schwarzgekleideten Bouquinistin betrachtete ein amerikanischer Student die Welt durch den Sucher seiner Leica.
    Paris war groß und still, fast ohne Laut, mit Lichtbündeln und Schattenflächen da, wo sie hingehörten, mit Geräuschen, die die Stille im richtigen Moment durchbrachen.
    Der alte Herr mit der hellen Jacke hatte eine Mappe aufgeschlagen, und um die Bilder darin zu betrachten, hatte er die Mappe auf die steinerne Kaimauer gelegt.
    Der amerikanische Student trug ein rotkariertes Hemd, hatte aber keine Jacke an.
    Die Bouquinistin saß strickend auf einem Klappstühlchen. Rote Wolle lief zwischen ihren Fingern hindurch, und sie bewegte ihre Lippen, ohne ihren Kunden anzublicken; ihr Monolog plätscherte munter dahin.
    Die weiße Hündin krümmte ihren Rücken unter dem Gewicht des großen Rüden, der seine feuchte Zunge heraushängen ließ.
    Und in diesem Augenblick, als alles an seinem Platz war, als dieser Morgen einen fast erschreckenden Grad an Vollkommenheit erreicht hatte, starb der alte Herr. Ohne ein Wort der Klage, ohne sich zu krümmen, während er seine Bilder betrachtete, dem Redefluß der Bouquinistin, dem Piepen der Spatzen und dem gelegentlichen Hupen der Taxis lauschte.
    Er mußte im Stehen sterben, mit einem Ellbogen auf dem steinernen Sims und ohne einen Ausdruck des Erstaunens in seinen blauen Augen. Er schwankte und fiel auf den Bürgersteig. Die Mappe riß er mit, und die Bilder flatterten um ihn herum zu Boden.
    Der große Rüde bekam keine Angst, hielt nicht inne. Doch die Frau ließ das rote Wollknäuel aus ihrem Schoß rollen, sprang hastig auf und schrie:
    »Monsieur Bouvet!«
    Andere Bouquinisten saßen ebenfalls auf Klappstühlchen oder ordneten Bücher in ihren Kästen, denn es war erst halb elf Uhr morgens. Die zwei schwarzen Zeiger auf dem weißen Zifferblatt der großen Uhr mitten auf der Brücke zeigten an, wie spät es war.
    »Monsieur Hamelin! Kommen Sie schnell!«
    Hamelin war der Bouquinist von nebenan. Er hatte einen großen Schnurrbart und trug einen grauen Kittel. Der Student hatte seine Leica auf den alten Herrn gerichtet, der dalag inmitten der Bilder.
    »Ich habe Angst, ihn anzufassen, Monsieur Hamelin. Wollen Sie nicht nachsehen, ob …«
    Sonderbarerweise hatten sie jetzt plötzlich Angst vor dem alten Herrn, den sie so gut kannten und der ihnen seit langem vertraut war. Das kam vielleicht daher, daß er nicht wie ein Toter und noch nicht einmal wie ein Kranker aussah. Sein Gesicht war ebenso ruhig wie in dem Moment, als er die Bilder betrachtet hatte, und seine schmalen Lippen lächelten immer noch. Mehr hatte er nie gelächelt. Lediglich ein leichtes Hochziehen
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