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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Stillleben eines flämischen oder französischen Alten Meisters entsprungen, friedlich neben Rebhuhn und Fasan liegend, edle Jagdbeute, feinste Fleischlieferanten – und auf einmal möchte ich es nicht mehr treten und davonjagen, ihm physischen Schaden zufügen, sondern es malen. Allerdings auf meine ungleich radikalere Art, also mit einem durch die zarte Kehle getriebenen Nagel an ein Holzkreuz gepinnt, der eine Flügel gebrochen, der andere ausgerissen und mit blutendem Arschloch. Und die Gesichtszüge würden menschlich sein, die eines Mannes, eines schönen Mannes oder, zumindest im Moment, in dem diese Erinnerung noch dominiert, die des Typen von letzter Nacht, während er gerade in meinem Arsch seinen kleinen Tod stirbt. Oder aber meine eigenen. Dann würden auch noch Tränen aus ihren gebrochenen Augen fließen, ganz kleine, gar nicht kitschige, die nur der geübte Betrachter erkennen kann.
    Meine Gedanken wollen noch weiter abschweifen und ziehen sich tiefer in die Malerei zurück, auch wenn die Malerei hier nur graue, unbefriedigende Theorie sein kann. Ich sehne mich nach meinem Atelier, nach dem frischen, unberührten Weiß einer Leinwand und dem leicht stechenden Lösungsmittelgeruch der Ölfarben. Immer wenn ich ein neues Gemälde anfange, bin ich ebenso unschuldig und jungfräulich wie die Materialien, die ich verwende. Ich fühle mich rein und – und das ist der Unterschied zum wahren Leben – bleibe es auch dann noch, wenn ich meine Arbeit beendet und einen weiteren Albtraum erschaffen habe, der wieder einmal alle Welt glauben lässt, ich wäre nicht mehr ganz dicht im Kopf. Wenn ich male, kann ich mich auch noch so bekleckern und einsauen, nichts davon kann mich wirklich beschmutzen. Der Maler in mir bleibt immer rein und unschuldig, egal was er malt. Das Grauen erschöpft sich in Komposition und Darstellung meines Werks, es greift nicht auf mich über. Es mag aus mir heraus und auf die Leinwand fließen, aber von dort gibt es kein Zurück mehr zu mir. In meinem Atelier und vor meinem Werk bin ich frei, vollkommen frei, und wenn ich könnte, wenn ich es nur irgendwie durchhielte, würde ich mich für den Rest meines Lebens darin einsperren, jeden Kontakt zu meinen Mitmenschen abbrechen und ganz Hingabe an die eigene Schöpfungskraft sein. Eines fernen Tages würde ich dann dort und von aller Welt ungesehen friedlich sterben, mit dem Pinsel in der Hand und zu Füßen einer Staffelei, auf der … was zu sehen sein würde? Ich denke, ein Neugeborenes, ein Säugling, schöner und sauberer und göttlicher als das Jesuskind selbst. Das von vorn beginnende Leben …
    Ein übler Scherz, wie alles andere auch, denn:
    »Sehr geehrte Damen und Herren, beachten Sie bitte die Fahrtrichtungsanzeiger …«
    Alle Köpfe wenden sich automatisch nach oben zu den Fahrtrichtungsanzeigern, leider auch meiner, und eine strunzdumme Ansagerin der Deutschen Bahn, die von ihrer eigenen Muttersprache augenscheinlich nicht die geringste Ahnung hat, durchkreuzt meine Gedanken, zerschlägt sie zu Brei mit dem Sprachmüll, den sie jetzt über Bahnsteig und Wartende erbricht. Es ertönt noch ein leichtes elektrisches Surren in den Lautsprechern – die letzte Warnung, mit der man dem Fallbeil aber auch nicht mehr entgehen kann –, dann eine Pause, dann erst kommt die gesichtslose Stimme zurück.
    »… sind zurzeit außer Betrieb!«
    Ich stelle mir sofort eine hässliche Fresse voller Pickel und haariger Warzen und mit verfaulten Zähnen vor.
    »Für Informationen über an- und abfahrende Züge achten Sie bitte auf die Durchsagen oder auf die Anzeigetafel in der Haupthalle. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«
    Manche Leute lachen, andere schütteln nur den Kopf. Ich komme mir verschaukelt vor, als hätte die Alte mich und nur mich persönlich in die Pfanne hauen wollen. Für einen Moment bilde ich mir sogar ein, sie wisse um meinen liederlichen Lebensstil und sei Teil meiner Bestrafung. Wie kann man nur einen so simplen Satz so falsch betonen? So viel Dummheit tut doch weh, wenn schon nicht ihr, dann zumindest mir. Ich wünschte, mein Zug käme endlich, um mich von diesen ganzen Freaks hier zu erlösen. Aber der hat natürlich Verspätung. Das kann ja auch gar nicht anders sein, schließlich reden wir hier von der Deutschen Bahn. Und es kommt noch schlimmer, denn ein paar Spaßvögel um mich herum, vorwiegend Herren der Schöpfung, nur leider keine allzu ansehnlichen Exemplare, was mich ihnen ihr blödes Mundwerk, ihre
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