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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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doch könnte für ihn schon alles zu spät sein.
    Andererseits: Warum soll eigentlich nur ich Schuldgefühle und Scham empfinden? Er hat es doch genauso gewollt! Er hätte ebenfalls an mehr als nur einen schnellen, dreckigen Fick denken können. Aber genau das Dreckige wollten wir ja beide, dieses Ficken ohne Rücksicht auf Verluste. Keine Konsequenzen, keinen Alarm. Niemand würde verletzt werden, niemand könnte verletzt werden. Wir wollten es ja beide so. Heißt das dann auch, dass er am Ende dasselbe in sich spürte wie ich, eben nicht nur unbändiges Verlangen, sondern auch diesen Ekel vor sich selbst, der mit ungeschütztem Sex sowohl besänftigt als auch bestraft werden soll?
    Eine Taube nähert sich mir, und ich verspüre sofort den Wunsch, nach ihr zu treten. Ich kann diese Vögel, diese Ratten der Lüfte, sowieso nicht ab. Sie sind die reinsten Parasiten, eine Landplage, ein fliegendes Unkraut, gegen das es einfach kein Mittel gibt. Selbst diesen Bahnhof haben sie zu ihrem Lebensraum machen können und sitzen nun auf sämtlichen Simsen und Vorsprüngen, die umgedrehten Nägel, die darauf angebracht worden sind, um genau das zu verhindern, einfach ignorierend, und scheißen auf alles und jeden. Sie führen sich auf wie die Herren der Welt und sind doch nur elende Krankheitsverbreiter. Selbst die schönsten dieser Tiere tragen Tod und Verderben mit sich herum. Tauben verbreiten das Vogelgrippevirus, ohne selbst daran zu erkranken. Sie tun so unschuldig, picken einfach nur so mit den anderen Vögeln auf dem Boden herum und infizieren sie im Vorbeigehen mit dem Tod. Ein flüchtiger Kontakt genügt …
    Die Taube kommt näher und immer näher, sie sucht nach Brötchenkrümeln und anderen Leckereien. Ich lasse sie an mich herankommen, dann hole ich aus und trete nach ihr. Ich verfehle sie, sie fliegt weg. Glück für sie. Kein Glück für mich, ich hab wieder nur was Dummes getan. Besser fühle ich mich jetzt bestimmt nicht.
    Ich spüre, wie mich diverse Augenpaare missbilligend anstarren. Einen Moment lang senke ich meinen Blick schuldbewusst zu Boden, ich fühle mich getadelt, wie damals als Kind, wenn ich wieder etwas angestellt hatte, meine Geschwister nicht mit in den Sandkasten gelassen hatte zum Beispiel, weil ich gerade so schöne Skulpturen aus Sand baute, die sie nur achtlos zerstört oder verschlimmbessert hätten. Meine Mutter, die nie laut wurde und auch heute nicht laut wird, hat dann immer tadelnd geguckt, mich geradezu niedergestarrt, als wäre auch meine neueste Missetat eine ganz persönliche Kränkung für sie, bis mich das schlechte Gewissen überwältigte und ich kleinbeigab. Sie wusste, womit sie meinen Widerstand brechen konnte; mein Vater dagegen war eher ein Anhänger von Leibstrafen. Aber ich bin kein Kind mehr, schon lange nicht mehr. Ich unterwerfe mich nur noch, wem ich will und wenn ich es will! Also hebe ich meinen Blick, nehme eine vor Verachtung und Hochmut geradezu ätzende Haltung ein und starre aggressiv in die Luft. Es kommt wie erwartet: Keiner hat Interesse daran, sich mit so jemandem wie mir auf eine Diskussion einzulassen, nicht wegen einer blöden Taube, und nach und nach löst sich die Aufmerksamkeit wieder von mir. Innerlich sacke ich erleichtert zusammen; ich diskutiere auch nicht gerne, ich bin eher ein Mensch der Tat, einer, der handelt, statt zu reden.
    Kurz darauf, wie von einer der beständig den Bahnhof durchbrausenden Fahrtwindböen mir erneut vor die Füße geschleudert, kommt die Taube zurück. Mit meinem scharfen Malerauge, das darauf trainiert ist, auf Details zu achten, erkenne ich sie sofort wieder. Es ist nicht nur ein hübscher Vogel, wie ich jetzt sehe, sondern auch ein hartnäckiger. Beides imponiert mir. Dieses Tier scheint für sich eine mindestens ebenso große Daseinsberechtigung auf diesem Bahnhof in Anspruch zu nehmen wie ich, wenn nicht gar eine größere, denn vermutlich ist es jeden Tag hier, lebt hier, ist irgendwo im Stahlgebälk in einem Nest geschlüpft, hat das Fliegen unter dieser Kuppel erlernt und das harte Leben eines Resteverwerters. Dafür sieht es dann sogar richtig schön aus. Das Gefieder auf dem Rücken und die Flügel sind von einem dunklen Stahlgrau, Bahnhofsgrau möchte ich es fast nennen, das an Bauch und Kehle von einem helleren Mausgrau, die Federn an Kopf und Hals schimmern irisierend grün und violett wie Öl. Es ist wohlgenährt und unversehrt, bisher verschont von jedwedem Unfall oder Geschwürbildung. Als wäre es dem
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