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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Zigaretten und Schweiß, und mein Arsch brannte von Scheiße, Sperma und Blut. In diesem Zustand hätte ich besser einen Arzt aufsuchen sollen, stattdessen packte ich meine kleine Sporttasche und war auf einmal davon überzeugt, dass mir mal wieder nichts mehr guttun würde als ein paar Tage in Klaus’ Ferienhaus auf Föhr. Um zu vergessen, um wieder auf klare Gedanken zu kommen, um mir von Wind und Wetter die Dreckkruste abzuwaschen, die an mir klebte wie altes Paniermehl an einem gammligen Wiener Schnitzel.
    Samstags haben alle Arztpraxen geschlossen, und heute ist Samstag. Ich kann erst in zwei Tagen zum Arzt gehen, die Zeit bis dahin muss ich irgendwie totschlagen, ohne jemand anderem oder auch mir selbst zu schaden. Auf Föhr geht das am besten, da bin ich vor allen Versuchungen sicher. Das beruhigt dann auch das schlechte Gewissen und lässt es aufhören, mich mit den abgründigsten Horrorvorstellungen zu quälen, die selbst ich, der »Meister der Schreckensmalerei« – FAZ im Juli des vorvergangenen Jahres – nicht mehr auf einer Leinwand zu bändigen weiß, Bilder, für die es keine Farben und Materialien gibt, um sie auch nur ansatzweise so darzustellen, wie sie wirklich sind. Auf Föhr verfolgen mich diese Bilder nicht.
    »Warum kaufst du dir nicht endlich ein eigenes Haus?« Klaus, der Hausbesitzer, der mir sein Feriendomizil freundlicherweise immer wieder überlässt, macht schon Witze darüber. »So oft, wie du da bist.«
    Ich bin ziemlich regelmäßig da.
    »Ach, das stimmt doch nicht«, antworte ich lahm.
    »Wirklich? Und warum habe ich dann jedes Mal, wenn ich in mein Häuschen will, das Gefühl, erst dich um Erlaubnis fragen oder zumindest klären zu müssen, dass du es nicht gerade wieder brauchst?«
    Er meint es nicht ernst, nicht vorwerfend, er hat sich längst mit den Eigenheiten meines Charakters abgefunden, trotzdem verziehe ich, ärgerlich werdend, die Mundwinkel. Dann zuckt er mit den Achseln und meint lapidar: »Na ja, so wird es wenigstens genutzt.«
    Manchmal analysiert er die Lage aber auch ernsthaft. »Es tut dir augenscheinlich gut«, erklärt er dann, „du bist ruhiger und entspannter und kannst viel besser arbeiten. Berlin lenkt dich doch immer wieder zu sehr ab, und du lässt dich zu gerne ablenken. Berlin ist ein ungesunder Sumpf, ein stechmückenverseuchter Tümpel neben dem anderen, und du glaubst immer noch, dass du dich in jedem einzelnen davon mindestens einmal gewälzt haben musst.«
    Jedem anderen würde ich eine solche Offenheit nicht verzeihen, mag sie nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Klaus schon, denn Klaus ist ein echter Freund, und ich schulde ihm viel, mehr, als er selbst weiß. Er war immer gut zu mir, er vertraut mir. Mir, der ich ihn um Haaresbreite verraten hätte! Noch heute greife ich mir jedes Mal bestürzt an den Kopf, wenn ich daran denke, was ich ihm beinahe angetan hätte (und was ich Hannes angetan habe).
    Was mache ich eigentlich, wenn gerade jemand das Haus nutzt? Schließlich sind Ferien, und neben Klaus und mir gibt es noch andere, die das Häuschen von Zeit zu Zeit nutzen dürfen, auch wenn sie, im Gegensatz zu mir, keinen eigenen Schlüssel haben. Was mache ich nur, wenn sich meine Fahrt ins Blaue als eine Fahrt in die Obdachlosigkeit entpuppen sollte? Denn eins ist klar: Andere Mieter neben mir kann ich im Moment nicht gebrauchen, ich will allein sein. Es sind Herbstferien, die Insel ist bestimmt komplett ausgebucht. Wo soll ich hin, wenn mein Plan nicht funktioniert?
    Ich schiebe diesen Gedanken so weit wie möglich von mir weg, es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ich stecke das Reisemagazin in die Lasche des Vordersitzes, schließe die Augen und versuche, etwas zu schlafen. Den Lärm um mich herum, dieses unermüdliche Gebrabbel, vermischt mit dem gleichmäßigen Räderrumoren des Zuges, blende ich aus. Das gelingt mir natürlich kaum, ich bin einfach zu lärmanfällig, besonders wenn es mir eh schon nicht gut geht. Das lässt mich gleich wieder ärgerlich werden, zerreißt meine behauptete Gleichgültigkeit wie einen alten Vorhang in einem schäbigen Kinosaal. Ich kann tun, was ich will, plötzlich sitze ich wie festgebunden in meinem Sessel, und da kommen sie auch schon: die Bilder von letzter Nacht. Der übliche Flashback, der früher dran ist als sonst. Sie sind verwackelt, wie mit einer Handkamera aufgenommen, wirr und unlogisch zusammengeschnitten, ohne künstliches Licht und eigene, extra dafür komponierte Musik: mein Leben
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