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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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dämlichen Kommentare vielleicht noch hätte verzeihen lassen, fühlen sich jetzt dazu animiert, ein paar »lustige« Sprüche abzulassen. Ein Mann Mitte vierzig von unförmiger Gestalt in einem schwarzen Trenchcoat nennt die Ansagerin »eine tolle Nachrichtensprecherin«, ein anderer in klassischem Rentnergrau wirft »Radiomoderatorin« ein, ein dritter, optisch eine Mischung aus seinen beiden Vorgängern, schimpft über die Ausbildung des Bahnpersonals.
    Das ist alles nicht witzig. Das ist alles einfach nur dumm. Ich will hier weg. Ich will hier weg! Aber mein Zug kommt und kommt nicht. Impulsiv, wie ich bin, bin ich versucht, einmal mehr alles stehen und liegen zu lassen und wegzulaufen. Doch kaum bin ich gedanklich so weit, ertönt wieder diese Lautsprecherstimme und wiederholt eins zu eins ihren verhunzten Spruch und macht damit jedes Handeln meinerseits unmöglich. Es ist, als würde sie mich damit lähmen, mir zwischen den Zeilen zuflüstern: »Du bleibst hier. Ich lass dich nicht weg. Du hast es nicht anders verdient.« Und von den anderen Bahnsteigen fährt ein Zug nach dem anderen ab, und die Fensterscheiben werfen mein Spiegelbild zurück, und ich sehe mein schuldbewusstes Gesicht. Je länger ich hier stehe, desto stärker lasten die Ereignisse der letzten Nacht auf mir. Die und all ihre Brüder und Schwestern aus den Tagen und Nächten davor, seit meiner Jugend, seit der Geschichte mit Karsten, meinem Tennistrainer.
    Derweil ist die Taube weggeflogen, heim in ihr Nest, vermutlich vertrieben von der Dummheit der Menschen. Nur ich bleibe zurück, wie festgeschraubt auf dem Berliner Bahnsteig, ein großer anthrazitgrauer Fleck zwischen den bitumengrauen Kaugummiflecken auf seinem Betongrau, und mein Zug, mein erdgebundenes Schienenfahrzeug, kommt und kommt einfach nicht.
    Doch dann ist der Zug endlich da. Neununddreißig Minuten zu spät. Neununddreißig Minuten mit der Artikulationsagonie der Ansagerin im Ohr und einem Blick, der immer wieder hilflos hoch zum defekten Fahrtrichtungsanzeiger wandert, ohne Erlösung zu finden. Neununddreißig Minuten, die mich davon überzeugt sein lassen, dass ich unbedingt hier weg muss, raus aus dieser Stadt, aus diesem Leben, das so völlig im Arsch ist. Im wunden Arsch, um genau zu sein, Speichel taugt nicht viel als Gleitmittel. Ja, ich bin auf der Flucht, ich laufe weg, aber genau das brauche ich jetzt. Ich mache andauernd schlimmere Fehler, dagegen ist das hier, diese Art Fahrerflucht, ein Kavaliersdelikt. Weg von allem hier muss ich, besonders von den Menschen dieser Stadt, von meinen sogenannten ›Mitmenschen‹. Sie widern mich an, sie sind nichts als schöne, verführerische Oberfläche und darunter verdorben und verseucht. Sie verhalten sich wie die Schweine, hinterfotzig und gemein, und so, wie sie sich verhalten, verhalte auch ich mich. Es macht gar keinen Sinn, anders sein zu wollen, denn dann akzeptieren sie dich nicht mehr und du stehst ziemlich verloren und verlassen da. Ich muss hier raus, ich brauche frische Luft zum Atmen. Wenn ich erst einmal tief, ganz tief durchgeatmet habe, wenn mein Kopf wieder klar ist, meine Gedanken besonnen sind, dann kann ich zurückkommen und alles besser machen. Dann kann es vielleicht sogar so etwas wie Wiedergutmachung geben.
    Leider hab ich nicht auf der Rechnung gehabt, dass in manchen Bundesländern die Herbstferien ausgebrochen sind und der Bahnhof daher mit ihrem touristischen Auswurf überschwemmt ist. Und der Zug, ein IC einer älteren Baureihe – seine Formen sind eckiger, ungraziöser, seine Farben blasser, billiger – natürlich ebenso. Fast alle Plätze sind reserviert, besetzt von fetten Touristenärschen. Ich bekomme gerade eben noch einen Sitz am Ende eines Großraumwagens. Eine alte Frau hätte den Platz ebenfalls gerne gehabt, doch weil sie keine Reservierung dafür vorweisen kann, bleibe ich ungerührt sitzen. Sie macht ein verkniffenes Gesicht und zieht ab, ihren Ärger schluckt sie runter. Dabei hätte sie mich vielleicht sogar vertrieben, wenn sie mir eine Szene gemacht hätte, wenn sie, das arme, alte Mütterchen, keifend und lamentierend die Aufmerksamkeit aller auf mich gelenkt und mich an den Pranger der allgemeinen Missbilligung und Verachtung gestellt hätte. Da bin ich wie alle anderen auch: Ich möchte nur meine guten Seiten öffentlich herausgestellt sehen, niemals aber meine schlechten.
    Die alte Vettel zieht ab, ich richte mich häuslich ein – und stelle fest, dass ich neben der
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