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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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1 Schon Monate vorher träume ich nachts immer wieder von der Abfahrt, wenn die Kinder in aller Frühe von ihren Eltern im Bahnhofsgebäude abgegeben werden. Sie stehen in einem großen Pulk in der Mitte der Halle und sehen mich an. Ich gehe auf sie zu und erkenne Gesichter aus früheren Jahren, die ich in der Zwischenzeit vergessen hatte. Manche wecken ungute Erinnerungen. In Gegenwartihrer Eltern halten sich ja noch alle zurück, aber dann bekommt man ohne Grund den Arm verdreht und muß betteln, wieder losgelassen zu werden. Diesmal bin ich aber vor so etwas sicher, ich bin in der größten Gruppe, das Ziel einer Entwicklung ist erreicht, wir sind die Könige des Durchgangs, nur unserem Gruppenleiter müssen wir uns beugen. Über allem thront der Lagerleiter, der damit leben muß, wegen seiner Machtstellung der unbeliebteste Mensch im Lager zu sein. Sogar manche Leiter sind insgeheim gegen ihn.
    Es ist das letzte Mal, daß ich fahren darf, weil ich in diesem Jahr 14 geworden bin. Ein Sechstel meines Lebens ist vorbei, denn ich werde ja irgendetwas zwischen 80 und 100. Ein Sechstel, halb kommt mir das beruhigend wenig vor, aber eigentlich auch beunruhigend viel. Daß ich so klein bin, ist vielleicht Glück im Unglück, denn je langsamer ein Lebewesen wächst, um so älter wird es, weil es weniger Energie verbraucht. Außerdem ist es sicher nicht gut, groß zu sein, weil dann das Blut über längere Strecken transportiert werden muß, und auch noch bergauf,wodurch das Herz früher ermüdet. Das älteste Lebewesen der Welt ist ein Schwamm, der in zehn Jahren überhaupt nicht gewachsen ist, was gerade sein Trick ist. An einem Sonnabendnachmittag kam einmal nichts im Fernsehen, nur eine Bildungssendung, in der ein besonders alter Mann einem Saal voller Studenten vorgeführt wurde und erklären sollte, was sein Geheimnis sei. «Mäßig sein», sagte er, und ein paar Studenten aus den hinteren Reihen äfften seine zittrige Stimme nach. Er bekam davon zum Glück nichts mit, das hätte mir das Herz gebrochen. Vielleicht ist es ganz gut, daß man am Ende seines Lebens, wenn sich alle über einen lustig machen, schwerhörig wird.
    Der erste Tag vergeht immer am langsamsten, später schafft man es kaum noch, in seine Sachen zu springen und sie abends wieder auszuziehen. Beim Bergfest ist dann schon die Hälfte der Zeit vorbei, der Vorrat wird immer kleiner. Man tröstet sich damit, daß ja noch das Abschlußfest kommt und die letzte Nacht, die man immer durchzumachen versucht. Und selbst dann bleibt noch die lange Heimfahrt im Zug. In Berlin pressen wir die Nasen an die Fenster, weil plötzlich braune Ziegelhäuser mit roten Dächern die Landschaft bilden, das ist unsere Stadt, es gibt sie noch. «Da wohn ick!» ruft einer. Wir werden uns Briefe schreiben, aus Berlin nach Berlin. Gleich am Wochenende wollen sich alle «an der Weltzeituhr» treffen. Ich bin aber noch nie zu diesen Treffen hingegangen, aus Angst, daß nur die Falschen kommen, zu denen ich dann auch gehören würde. Oder vielleicht lag es auch nur daran, daß ich einfach gerne zu Hause blieb.
    Diese Altbauten im Zentrum, die aussehen wie aus einem Kinderfilm über die Nazi-Zeit, in dem einem freundlichenKommunisten im Hausflur ein Totschläger über den Hinterkopf gezogen wird. Wenn der Fernsehturm nicht zu sehen ist, habe ich wenige Orientierungspunkte in der Stadt, das Puppentheater, das Colosseum, das SEZ. Von dort kenne ich den Weg zur S-Bahn, mit der ich zurück in unser Neubaugebiet komme, ich darf nur nicht in die falsche Richtung fahren. Vielleicht könnte ich sogar an den Gleisen entlang laufen, wenn ich keine Fahrkarte habe. Sollte ich eines Tages zu Hause ausziehen wollen, muß ich vorher alle Stationen auswendig lernen, ich kann mir aber die Reihenfolge von «Ernst-Thälmann-Park», «Leninallee» und «Storkower» nicht merken. Storkower hieß früher «Zentralviehhof», als wir im Altbau gewohnt haben. Ob sich noch jemand anders daran erinnert? Ich achte an dieser Station immer auf die Gesichter der Erwachsenen und wundere mich, daß sich niemand etwas anmerken läßt.
    Am Tag vor der Abfahrt kaufen wir im Intershop im Hotel Metropol den Computer, mit dem Geld, das uns meine Oma aus dem Westen vererbt hat. Auf der Rückfahrt in einer der alten Holz-U-Bahnen halte ich den bunt verpackten Quader aus Quietschpappe auf dem Schoß, und Wellen von Glück durchpulsen mich, weil ich Wochen brauchen werde, um auszuprobieren, was man mit dem Computer alles
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