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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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am Telefon, bei dem ich mich aber zwinge, mir das süchtig machende Zerreißen der Poren an ihrem Papierhäutchen nicht so oft zu gönnen, wie ich Lust hätte, weil es für diesen alten Adreßbuchblock keinen Ersatz zu kaufen gibt.
    Seltsam, daß unsere Verwandten ständig Wasser trinken, sie nehmen überallhin einen Vorrat an Plasteflaschen mit. «Wie haltet ihr das bloß aus?» sagen sie und deuten vom Balkon unserer Wohnung auf die Häuser unseres Neubaugebiets. Irgendetwas, das für meine Augen unsichtbar ist, scheint ihnen zuzusetzen. Mein Onkel aus Rendsburg behauptet sogar, mit Betreten der DDR Atembeschwerden zu bekommen, als läge ihm ein Stein auf der Brust. Wenn sie bei uns leben müßten, müßten unsere Verwandten aus dem Westen sterben.
    Nachts im Bett kann ich vor Aufregung nicht schlafen. In der Ferne rauscht es von der Autobahn. Jemand ist unterwegs, alleine durch die Nacht, ohne zu ahnen, daß ich ihn von meinem Bett aus belausche. Ab und zu tutet es, und man hört einen Güterzug rollen. Ich habe das Gefühl, irgendetwas für die Schule vergessen zu haben, müssen wir wieder ein Herbarium anlegen? Einmal hatte ich das am letzten Ferientag gemacht, als schon alle Pflanzen im Park verblüht waren, so daß ich mühsam irgendwelche Unterschiede zwischen ziemlich nah verwandten Gräsern konstruieren mußte. Ob ich diesmal eine Freundin haben werde? Aber wie soll es dazu kommen? In einem Buch aus der Kinderbibliothek habe ich die Geschichte von einem Jungen gelesen, der beim Sportfest im Weitsprung mit Absicht zweiter wird, obwohl er eigentlich der beste ist, und im Laufen zum ersten Mal gewinnt, weil er sich ganz besonders anstrengt. Alles, weil seine Angebetete dazu eingeteilt ist, bei der Siegerehrung vom Weitsprung den Zweitplazierten und beim Wettlauf den Sieger zu küssen. Noch besser ist die Geschichte, in der ein Junge in der Kinderbibliothek hinter ein Regal gezogen wird und plötzlich «etwas Warmes und Weiches» auf seinen Lippen spürt.Wenn es schon in Kinderbüchern steht? Man muß nur die Augen schließen und abwarten.
    Eine Flasche klirrt, ein Besoffener singt ein paar Worte, er hat das Echo der Blöcke für sich allein. Zwei Katzen gehen fauchend aufeinander los, es klingt wie jammernde Babys. Ich übe mit zwei Fingern küssen, der Zeigefinger berührt die Oberlippe und der Mittelfinger die Unterlippe, so wird sich das anfühlen, aber natürlich wird dann etwas in meinem Kopf passieren, wovon ich noch keine Vorstellung habe, jedenfalls hoffentlich, das kann ja wohl nicht dasselbe Gefühl wie mit den Fingern sein. Wenn man die Zunge in den Mund der Frau schiebt, imitiere das «den Penetrationsvorgang», stand in «Denkst du schon an Liebe». Auf dem Inneneinband des Buchs sind mit Füller in Kinderschrift geschriebene Fragen zu lesen: «Wie muß man an seine Freundin herangehen, damit sie mich liebt?» Ich war davon ausgegangen, daß die Antworten im Buch standen, und habe es immer wieder von vorne durchgeblättert und dabei jedesmal etwas genauer gelesen, aber ich habe nichts finden können. Warum kann ich nicht tanzen? Und jetzt ist es zu spät, weil es schon alle wissen, jetzt kann ich nicht mehr unbemerkt damit anfangen. Alle würden ganz genau beobachten, wie ich mich anstelle. Ich fühle mich wie der am schlechtesten behandelte Mensch der Welt, als sei ich bei der Speisung der Fünftausend als einziger übersehen worden. Wie der Junge, der alleine im Regen auf dem Dorfplatz wartet, weil ihm keiner gesagt hat, daß der Rummel in diesem Jahr nicht kommt. Irgendwann werden sie mich entdecken und sich den Mund zuhalten vor Entsetzen über ihr Mißgeschick. Ich denke gern an diesen Moment, dafür wird sich das Warten gelohnt haben.
    Beim Einschlafen sehe ich vor meinem inneren Auge, das ich mir in meinem Schädel wie einen Kinobesucher vorstelle, der in der letzten Reihe an der Wand sitzt und einen von innen an meine Stirn projizierten Film verfolgt, wie «Rabadack» mit seinem Truck die Mauer durchbricht und quer über alle Kreuzungen bis zu uns nach Buch rast, wo ich vom Balkon auf den Truck springe und bei Tempo 100 ins Fahrerhäuschen klettere. Wir donnern zusammen über Panzer und Barrikaden hinweg und über die Grenze. Ich überlege, ob ich mich überhaupt anschnallen muß, weil wir ja vermutlich nie wieder bremsen werden.

2 Wir sitzen im Wartburg, der laut Fahrzeugbrief dieselbe Farbe hat wie die Sahara, aber leider kein Schiebedach und nur eine Lenkradschaltung statt diesem
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