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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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machen kann. Ich lasse mir nichts anmerken, um nicht den Neid der anderen Fahrgäste zu provozieren, die genau sehen, daß das Paket nicht «von hier» ist. Ich muß es damit bis nach Hause schaffen. Die Quietschpappe werden wir aufheben, falls der Computer einmal wieder eingepackt werden muß. Vielleicht gibt es irgendwo auch für mich so ein weißes Bett, in das ich am Ende zurückgelegt werde? Als erstes muß ich rausbekommen, was die Wörter bedeuten, die auf den Tasten stehen, und dann so schnellwie möglich «Pacman» programmieren, damit ich zuhause üben kann, bis ich es schaffe, im Kulturpark Plänterwald mit 50 Pfennig so lange zu spielen, wie ich will.
    Im Wohnzimmer darf ich den Computer an den Farbfernseher anschließen, der Bildschirm strahlt in einem reinen, wundervoll künstlichen Blau. Man kann
von innen
an die Bildröhre schreiben, obwohl dort ein Vakuum herrscht, das den Fernseher jederzeit implodieren lassen könnte, ein Ereignis, vor dem ich mich fürchte wie vor dem Auftauchen amerikanischer Cruise Missiles, die ja nah am Boden entlangschießen und allen Hindernissen ausweichen. Der blinkende Cursor rast los, wenn man die Taste gedrückt hält. Am größten ist die Leertaste, genau wie bei der Schreibmaschine. In der Anleitung nennen sie sie «Space»-Taste, wie beim Space-Shuttle. Eine Weile versuche ich, die Leertaste genau im Rhythmus des Blinkens zu drücken, so daß der Cursor nie unsichtbar wird. Viel zu früh kommt mein Vater heim, sinkt in seinen Sessel und will Nachrichten sehen, dieses Gemurmel, von dem er nicht genug bekommen kann. Fahrzeuge mit Raketenwerfern spucken Geschosse in die Wüstenluft, da möchte man nicht leben. Am Sonntagvormittag guckt er immer eine Sendung, bei der nur geraucht und geredet wird, ab und zu sagt er: «Quatsch!»
    Meine Mutter will meinen Koffer packen, und dafür muß ich alte Sachen anprobieren, ob sie überhaupt noch passen, die Pullover sind zu eng, es knistert beim Ausziehen, die Haare kleben an den Kunstfasern. «Zum Verlieben!» sagt sie bei allem, was ich ihr präsentiere. Ich weigere mich, kurze Hosen mitzunehmen. Ich bin einmal von einer Kindergartentante nach Hause gebracht worden, weil esso heiß war und ich als einziger lange Hosen trug. Aber ich finde, daß meine Beine von oben gesehen so dünn wirken, während im Sitzen die Oberschenkel auseinanderquellen. Meine Mutter gibt keine Ruhe, bis wir den halben Schrank durchhaben. Welches Nicki ich für die Disko will? Ich tanz doch sowieso nicht, sage ich. «Na, wart mal ab», sagt sie, als wüßte sie schon, was in meinem Leben als nächstes passieren wird. Aber ich tanze wirklich nicht, ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe es mir von Roberto zeigen lassen, der seine Mutter zum Abschied immer auf den Mund küßt. Er konnte schon immer tanzen, aber bei mir funktioniert es nicht, ich muß bei jeder Bewegung nachdenken, was ich als nächstes tun soll, und wenn jemand zusieht, werden meine Glieder steif. Ich habe deshalb immer Angst, daß irgendwo das Licht ausgeht und die Musik laut gestellt wird. Sogar im SEZ gibt es um Mitternacht eine «Badehosen-Disko». Als mir mein Cousin aus Rendsburg einmal verriet, daß man, wenn man heiratet, mit seiner Frau nackt tanzen muß, wußte ich gar nicht, was von beidem schlimmer war, sich nackt ausziehen müssen oder tanzen.
    Im Badezimmerschrank der Geruch von braunem Sulfoderm-Puder. Das röhrenförmige Unterteil und der Deckel lassen sich perfekt ineinanderschieben. Wenn die Packung eines Tages leer sein sollte, könnte man eine Camera Obscura daraus bauen, aber das Puder stammt noch von vor meiner Geburt, weil es niemand benutzt. In meinen Brustbeutel tue ich die Heftpflaster, die ich heimlich mit der Nagelschere kreisrund geschnitten habe, nachdem ich ausgerechnet habe, wieviele ich für drei Wochen brauche, für jeden Tag eins und eins als Ersatz. Seit einer Weile habe ich eine Warze auf dem Handrücken, obwohl ich nie eine Ratte angefaßt habe.
    Lange sehe ich aus dem Fenster auf den Fußballplatz im Hof, ich habe dazu meinen besten Wollpullover angezogen und versuche, über irgendetwas Kompliziertes nachzudenken, weil ich mir einbilde, daß man mir das dann ansieht. Kann Gott auf die Wünsche jedes Menschen eingehen, oder würde er sich in Widersprüche verstricken? Warum herrscht in manchen Ländern solche Not? Wie kommt es, daß ich so ein besonderer Mensch bin? Ich schäme mich ein bißchen vor mir selbst, weil ich das Wort «Not» irgendwie nur
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