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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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alten Fahrrädern das Schutzblech vom Hinterrad schmücken. Der Reißverschluß seiner Hose ist kaputt, und der Knopf ist abgerissen. In einem Stoffbeutel transportiert er ein Paar Mini-Kakteen. Ich habe gesehen, daß er alte Mosaik-Hefte liest, mit den Digedags, also noch ohne Sprechblasen. Der Text steht unter den Bildern, das ist mir immer zu trostlos gewesen. Erwachsene sind damit überfordert, die Sprechblasen von Comics in der richtigen Reihenfolge zu lesen, dabei macht man das doch automatisch. Komischerweise scheint Wolfgang nur den Text zu lesen, die Bilder verdeckt er mit einem Blatt Papier.
    Nach der ersten Aufregung kehrt Stille ein. Wulf sammelt von allen die Teilnehmerhefte ein, mit Bade- und Springerlaubnis. Die Stullen werden ausgepackt. Bei manchen hat sie die Mutter in eine ausgewaschene Milchtüte getan. Ich habe eine Reise-Eierbüchse für zwei Eier und mit einem eingebauten Salzfäßchen. Sollte man nicht doch mal die rote Notbremse ziehen? Das ist einfach zu verlockend. Und warum funktioniert das nicht, daß man hochspringt und der Zug unter einem ein Stück weiterfährt?
    «In Apfelkernen ist Blausäure!»
    «Die ist aber gesund.»
    «Zeigt mal, wieviel Steine eure Uhren haben.»
    «Meine ist aus steinlosem Stahl.»
    «Wieso?»
    «Steht hinten drauf.»
    «Wieso steht denn da ‹Western› Germany? Gibt’s da Cowboys und Indianer?»
    «Was ist wertvoller? Platin oder Gold?»
    «Weiß doch jeder.»
    «Am wertvollsten ist Sand.»
    «Davon träumste …»
    «Nee, wirklich, zum Bauen, und weil daraus Glas hergestellt wird.»
    «Glas ist doch nicht aus Sand?»
    «Guckt mal, ’ne Rangierlok!»
    Die fahren ja meistens rückwärts, und der Fahrer guckt zum Seitenfenster raus.
    «Ej, Eike, weeßte, watt?»
    «Ja?»
    «Watt ’n?»
    Marko hat eine Ruhla-Uhr, die angeblich für Kampfschwimmer hergestellt wird. Sie ist aus Panzerglas. Auf der Rückseite steht «Eigentum der NVA». Er hat sie von seinem Vater, der Offizier ist.
    «Gegen wen kämpfen denn Kampfschwimmer?»
    «Na, gegen andere Kampfschwimmer.»
    Er weiht uns darin ein, daß er nie ein anderes Auto fahren würde als einen Porsche. Aber nur einen mit Boxermotor, weil der «so schön blubbert». Er will später Fernfahrer werden und sich ein Nummernschild ins Fenster stellen, auf dem «Joe le Taxi» steht. Er macht mir ein bißchen Angst, weil er immer so ernst guckt, man muß bei jedem Spruch fürchten, daß er ihn für kindisch befindet, und dann hat man sein Gesicht verloren. Er weiß genau, was er anziehen und besitzen will, und solange er das nicht haben kann, ist es ganz egal, was er anzieht und besitzt, deshalb trägt er eine Trainingshose und Sandalen.
    «Ick jeh mal Erwin um die Tallje fassen», sagt er und verschwindet auf dem Klo.
    Wir «kloppen» Skat, auf dem kleinen Tischchen unter dem Fenster. Manchmal sagen wir auch «Schkat», weil daserwachsener klingt. Ich habe das bisher mit meinen Geschwistern gespielt, und bei uns ist es so, daß jeder darauf spekuliert, daß im Skat der Kreuz- und der Pikbube liegen. Wir reizen also so weit, wie man überhaupt nur reizen kann, bis zwei von uns Grand Ouvert spielen wollen, und dann findet man irgendeine Lusche im Skat und schwenkt auf Null um, damit man weniger Minuspunkte bekommt. Bis jetzt kann ich noch nicht mischen, dieses blitzschnelle Hin- und Herhacken der Hände, bei dem die Karten auf unerklärliche Weise langsam von der einen in die andere Hand wandern. Eine dieser Künste, die andere Jungs beherrschen, wie mit den Fingern zu pfeifen und Löten. Ich kann nur Oma Raketes Mischmethode, aus den Karten werden zwei gleich große Stapel gebildet, die man dann an einer Ecke ineinanderschiebt. Früher dachte ich wirklich, Oma Rakete heiße so, aber eigentlich hatte ich nur den Vornamen falsch verstanden.
    Oma Rakete ist im letzten Herbst gestorben. Mein Vater hatte sich nach Jahren dazu durchgerungen, endlich das Wohnzimmer zu streichen, und nicht nur die Stellen, an denen immer das Regenwasser durch das flache Betondach unseres Neubaus sickert. Ich mußte die Bücher entgegennehmen, die mein Vater von den Regalen hob, und stellte sie in wackligen Stapeln auf den Tischen ab. Als meine Tante anrief, war es schon dunkel, wir hatten den Deckenleuchter abgehängt und konnten kein Licht machen. Ohne Licht verlor der Sonnabendnachmittag alles von seinem Zauber. Man kann mit dem Deckenleuchter eigentlich jeden Kummer besiegen, erst gehen drei Birnen an, und wenn man den Schalter ein zweites Mal
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