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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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bis dorthin, wo der Stoff anfängt. Oma Rakete hat dann immer vom Stricken aufgeschaut und gesagt: «Jetzt küssen ’se sich.»
    «Peggy?»
    «Ja?»
    «Ich glaube, das wird klappen morgen. Du mußt nur im richtigen Moment auftauchen. Die werden so erleichtert sein, daß keiner mit dir schimpft.»
    «Die werden mich alle hassen.»
    «Ist doch egal, du siehst sie doch nie wieder. Und nach Hause können sie dich auch nicht mehr schicken. Wir warten einfach den richtigen Moment ab. Erst mal tanzen die Leiter in Ballettkostümen mit Spitzenhäubchen und weißen Strümpfen den Tanz der Schwäne aus ‹Schwanensee›. Wo die so vom Rand in die Mitte hüpfen und sich an den Händen fassen und Standwaage machen und dann in einer Reihe diesen Spitzentanz. Die Beine von denen sehen immer so seltsam knollig aus in den weißen Strumpfhosen.»
    «Und dann kommt ein Kamel aus Decken rein, und der unbeliebteste Leiter muß sich drunterlegen und bekommt einen Eimer Wasser ins Gesicht, weil das Kamel gepinkelt hat.»
    «Und dann ‹Stadtführung›, wo die immer den Kopf in die Richtung von den Sehenswürdigkeiten drehen, und die Hände sind mit Kohle eingeschmiert.»
    «Und dann werden die ‹Liebespaare› verheiratet. Als letztes Heike und der Rettungsschwimmer.»
    «Letztes Jahr hat sie gesagt: ‹Und wann kann man sich wieder scheiden lassen?›»
    «Der arme.»
    «Dann singen die Mädchen: ‹
Rotlackierte Fingernägel und ein Paar Boogie-Woogie-Schuh, ein kariertes Miniröckchen, das gehört dazu …
› Am Ende muß Dennis ins Mikro rülpsen. Aber ausgerechnet morgen würgt er nur verzweifelt und kriegt es nicht hin. Bei der Disko öffnet sich plötzlich die Tür, allen bleibt der Mund offen stehen, weil du erscheinst, diesmal aber nicht als Micky Maus, sondern schön wie eine amerikanische Schauspielerin. Du bist ja wieder da? Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich fordere dich auf, und du antwortest in perfektem Hochdeutsch. Wir tanzen zusammen, ich kann sogar Stepptanz. Die Tür geht wieder auf, jetzt sind wir selber erstaunt, Wulf und Rita! Sie haben Geschenke mitgebracht, Luftschokolade und Waldmeistereis. Gott sei Dank ist der Spuk vorbei, alles ist wieder wie immer. In vier Jahren kommen wir alle als Leiter, und wenn wir Kinder haben, werden die in unseren Bungalows in unseren Betten schlafen und alles erleben, was wir auch erlebt haben.»

35 Ich sitze im Auto und starre in die Ferne. Es riecht nach Benzin und Schmieröl, ich habe Angst, daß mir schlecht wird. Die Tachonadel steht kurz vor der 100. Ich habe mir immer gewünscht, wenigstens einmal im Leben 100 km/h zu fahren, wie sich das wohl anfühlt? Meine Eltern starren auf die Straße und schweigen. Vielleicht haben sie sich gestritten. Weil der Brief eben nicht «am» Spiegel war, wie meine Mutter gesagt hat, sondern «unterm» Spiegel. Ich muß mir immer wieder vorstellen, wie sich meine Mutter zu mir umdreht und sagt: «Wir lassenuns scheiden.» Im Film wird Kindern so etwas in einem ernsten Gespräch mitgeteilt, mit der Versicherung, daß sich für sie gar nichts ändern wird. Sie bekommen ein Stofftier geschenkt, das sie sich immer gewünscht haben, über das sie sich aber nicht mehr richtig freuen können. Mit solchen Kindern will dann keiner spielen, höchstens ein anderes Scheidungskind, obwohl die meistens zu gestört und bockig sind, um sich wenigstens untereinander anzufreunden.
    In meinem Kopf höre ich immer noch den schrillen, nicht abreißenden Klang hunderter Kinderstimmen, manchmal sehe ich ganz deutlich ein Gesicht vor mir, aber warum gerade dieses? Es fühlt sich seltsam an, daß ich nicht mehr in Schneckenmühle bin, heute früh war ich noch dort. Daß man immer nur das erlebt, was man selbst erlebt, aber daß überall sonst auch etwas stattfindet. Es ist so heiß, daß mein Arm am Kunstleder der Armstütze festklebt. «Hattest du eine Freundin?» Die Frage meiner Mutter macht mich aggressiv. Als wenn das alles so einfach wäre. Die anderen spielen jetzt Tischtennis um die grüne Platte unter dem Scheunenvordach, wo es so schön nach Holz riecht. Ich stelle mir vor, wie ich unbemerkt aus dem Auto gleite, mich in den Graben rollen lasse und zurück nach «Schneckenmühle» wandere. Wir könnten uns verbarrikadieren oder mit einem Spiegelsystem tarnen. Jeder würde eine Aufgabe übernehmen, je nachdem, was er besonders gut kann. Ich könnte mich um den Computer kümmern und mich irgendwie einhacken, so daß wir für die Geheimdienste unsichtbar
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