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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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Trauriges zu denken. Falls man einmal mit einem glühenden Messer geblendet wird, können einen Tränen retten. Meine Eltern fallen mir ein, die werden mich gar nicht wiedererkennen. Der neue Mülleimer, ich hatte mich doch so darauf gefreut. Im Kopf höre ich mich immer wieder den Satz sprechen: «Ich war so ein fröhliches Kind.»
    «Früher hatte ich immer Angst, daß mir vom Streicheln an der Stelle Haare wachsen auf der Hand», sagt Peggy.

33 Unsere Gruppe läuft nach Liebstadt, zum Tischtennisturnier, bei dem wir gegen ein anderes Betriebsferienlager antreten. Dort sind nur 30 Kinder, es wirkt alles sehr ärmlich auf uns, so wenig Kinder, so feuchte Baracken. Deren Betrieb stellt bestimmt Wäscheklammernher oder so etwas wie Peggys Schmierseife. Sie sagen «Schlägo» und «Batsche» zu ihrer Kelle, das können wir gar nicht glauben. Die leben ja hinter dem Mond. Ich bin stolz auf uns, wir fühlen uns so unendlich überlegen, weil wir aus der Hauptstadt kommen. Sie verlieren ja auch in allen Wettbewerben, wir gewinnen Gold, Silber und Bronze, wie die DDR im Zweier-Bob.
    Am Abend gibt es im Freibad eine Mitternachtsdisko unter freiem Himmel. Wie die hier tanzen! Das sieht so altmodisch aus! Einer mit Popper-Schnitt trägt ein braunes Hemd mit einer Lederschärpe quer über der Brust, wie von der HJ. Zwei Mädchen, die sich gegenüberstehen und sich immer auf dem Ballen in die Höhe schrauben und dabei den Oberkörper verdrehen. Manche schütteln auch den rechten Arm aus und bücken sich stufenweise tiefer, bis fast auf die Erde. Ich habe so etwas noch nie gesehen, es erinnert mich an die Tanzszene in «Raumschiff Orion». Wir brechen wie ein Modernisierungsschub in die Disko ein. Ich bin stolz auf die anderen, deren Bewegungen ich nun schon so lange studiert habe.
    In der Wurstbude hängt über dem Grill ein Plakat mit einer Frau, «Miss Mai». So sah die schönste Frau der Welt vom Monat Mai des Jahres 1979 aus. Schönheitskonkurrenzen gibt es nur im Westen, bei uns würde man Frauen nicht wie Tiere behandeln. Ich kann gar nicht wegsehen, ihre Brüste sind so groß, daß es praktischer wäre, sie auf dem Rücken zu tragen. Hat die «’ne schöne Figur»? Wir warten immer, bis sich eine lange Schlange gebildet hat, dann geht einer eine Wurst kaufen, und die anderen begleiten ihn und können heimlich Miss Mai betrachten. Das Plakat ist aus dem Westen, man sieht es an den Farben und ander amerikanischen Frisur von Miss Mai, wie eine aus «Denver Clan». Außerdem gibt es Pornographie bei uns ja nicht. Das arme Mädchen ist bestimmt drogensüchtig gemacht und gezwungen worden, sich für das Foto auszuziehen. Ich schäme mich ein bißchen dafür, daß ich als Christ nicht freiwillig wegsehe.
    Henriette holt mich aus der Schlange, sie hat einen Verehrer unter den Dorfjugendlichen, er hat sie zum Tanzen aufgefordert, und sie hat Angst, ihn nicht loszuwerden. Henriette hat zu Hause einen Freund, aber wir vermuten, daß sie ihn mit Wulf betrogen hat. Ich habe die beiden so vertraut im Wald sitzen sehen. Ich werde mit meiner Freundin zur Ostsee wandern, Hand in Hand, jeder auf einer Eisenbahnschiene. Die letzten Meter rennen wir, ein leerer Strand, kein Mensch weit und breit. Ich sehe alles genau vor mir, nur das Gesicht des Mädchens ist ein verschwommener Fleck.
    Ich soll mit Henriette tanzen, um ihren Verehrer abzuwimmeln. Ich kann doch gar nicht tanzen. Sie läßt aber nicht locker. Hoffentlich ist es nicht Ingo. Sie zieht mich an der Hand auf die Betonfläche, wo man sich zwischen die anderen drängeln muß. Von hier sieht alles ganz anders aus, man ist den anderen plötzlich so nah. Man fühlt sich irgendwie zusammengehörig. Das Pflaster der Tanzfläche kenne ich aus Berlin, die großen, rechteckigen Steine, von denen manche eine leicht rötliche Farbe haben, wodurch sich ein Muster ergibt. Die Steine eignen sich gut, wenn man beim Gehen nicht auf die Linien treten will. Die anderen scheinen es völlig normal zu finden, daß ich auch hier auftauche. Mein Körper ist ganz steif, ich fühle mich wie ein Pflaumenmännchen. Soll ich erst mal im Rhythmushüpfen? Es ist so eng, daß man sofort Ellbogen in den Rücken bekommt. Man muß sich bewegen, um den anderen auszuweichen und einer Lücke zu folgen, die wie eine Luftblase weiterwandert. Der Himmel, die Sterne, ob Oma Rakete mich jetzt sieht? Als das Lied zu Ende ist, warte ich ungeduldig auf das nächste, die Pause stört, man möchte gleich weitermachen, damit
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