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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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gut es uns geht. Ich war früher selbst ein guter Läufer.»
    «In Rumänien schaffen sie sogar schon U-Bahn-Stationen ab, damit die Leute mehr zu Fuß gehen und gesünder werden, hat mir mein Bruder erzählt.»
    «So? Interessant.»
    «Es gab mal einen Hürdenläufer, der war sich seiner Überlegenheit so sicher, daß er mit einem Buch in der Hand angetreten ist, um seinen Gegnern zu zeigen, daß er unterwegs noch Zeit zum Lesen haben würde.»
    «Was war das denn für ein Buch?»
    «Weiß ich gar nicht. Ist das denn wichtig?»
    «Ich denke schon.»
    Ich wundere mich selber, wieviel mir zum Thema Sport einfällt. Mit meinen Eltern habe ich noch nie darüber gesprochen. Für sie ist Sport das einzige Fach, in dem es nicht auf die Zensur ankommt. Mich interessiert es aber sehr, daß irgendwann jemand erfunden hat, rückwärts über die Latte zu springen, und auf diese Weise viel höher kam, oder beim Skispringen die Arme nach hinten zu drehen statt nach vorne. Vielleicht habe ich ja ein Talent zum Sportreporter? Ich schlafe aber immer beim «Sportstudio» ein, spätestens bei den Lottozahlen.
    Ich muß gähnen. Genaugenommen hat zuerst der Pfarrer gegähnt und mich damit angesteckt.
    «Ich finde das immer so langweilig, wenn sie im ‹Sportstudio› die Lottozahlen sagen: 5 …, 7 …, 25 …, 30 …, 32 …, 33 …, Zusatzzahl 2», sage ich.
    «Wir haben gar keinen Fernseher.»
    «Und dann sagen sie sie ein zweites Mal, damit die Blinden sich die Zahlen merken können. Ich wiederhole: 5 …, 7 …, 25 …, 30 …, 32 …, 33 …, Zusatzzahl 2.»
    Ist er eingeschlafen? Wir sitzen eine Weile unschlüssig da und beobachten den Pfarrer. War der Tee viermal aufgebrüht gewesen? Aber dann müßten wir jetzt «high» sein. Wie fühlt sich das denn an? Leise stehen wir auf und schleichen auf Zehenspitzen, wie die Bösewichter in den Zeichentrickfilmen, zur Tür. Wir gehen rückwärts, dann können wir, falls er aufwachen sollte, so tun, als würden wir gerade kommen.
    Schade, daß ich mir hier nicht alles in Ruhe angucken kann. Ich hätte ihn fragen sollen, ob er sich vorstellen kann, daß der Papst in Wirklichkeit Pan Tau ist. Ich fand immer, daß sie sich so ähnlich sehen, und die Serie lief ja zufällig genau bis zu dem Jahr, wo der neue Papst gewählt worden ist. So eine Wohnung hat man nur, wenn man Pfarrer ist. Sollte ich auch Pfarrer werden? Angeblich bekommen sie einen Teil ihres Gehalts in Westgeld, genau wie die Verkäufer im Intershop, die damit vom Klauen abgehalten werden sollen. Als Pfarrer kann man wahrscheinlich sogar ausschlafen. Man kann unter dem Talar seine normalen Hosen anbehalten. Und auf den Geistlichen wird in den Western meistens nicht geschossen. Allerdings muß man jede Woche eine Predigt schreiben, sein Leben lang. Ich würde von Montag bis Sonnabend an die ungeschriebene Predigt denken, wie an die Hausaufgaben.
    Ich bin überhaupt nicht müde, obwohl es schon hell wird. So früh bin ich sonst nie wach. Jetzt könnte man die Zeit an der Vogeluhr ablesen, aber ich habe ja eine Uhr. Peggy hat schon beim Pfarrer nichts mehr gesagt und schweigt den ganzen Weg über. Ich schäme mich, weil ich sie nicht gegen Ingo beschützen konnte. Muskeln, wenn man Muskeln hätte. Man müßte irgendwie an das Buch von Nakayama kommen, vielleicht können meine Eltern es in der Bibliothek ausleihen? Oder ich wünsche mir zu Weihnachten einen Expander? So ein Gerät am Gürtel müßte man haben, mit dem man sich in die Luft erheben kann, wie bei Captain Future. Warum ist Peggy so still? Ich überlege, ob ich ihre Hand nehmen soll oder ob sie dann beleidigt wäre, weil ich nur an mich denke, wo ihre Mutter doch krank ist. Das mit den Hasenzähnen ist jetzt vielleicht nicht das richtige. Irgendwas muß ich sagen. Ich verstehe überhaupt nicht, was in ihr vorgeht. Ob das überhaupt stimmt mit ihrer Mutter?
    «Vielleicht sollen wir morgen nacht nach Dresden?» sage ich.
    «Ohne Geld?»
    «Ich hab eine Sicherheitsnadel. Wenn man sich damit den Jackenärmel zumacht, kann man im Laden was zu essen drin verstecken.»
    Ich ziehe mir vor dem Bungalow die Sachen wieder aus, den Schlafanzug habe ich ja schon an. Ich schleiche mich rein und überlege, wie ich möglichst geräuschlos die Leiter vom Doppelstockbett hochsteigen kann. Als ich das Sachenbündel ablegen will, fällt mir etwas Schweres aus der Hosentasche. Mir bleibt fast das Herz stehen, aber die Fischbüchse landet gar nicht auf dem Boden, Wolfgang hat sie
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