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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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vielleicht die ganze Nacht wachbleiben, Künstler arbeiten doch auch immer nachts. Ich müßte ihn irgendwie müde machen, solange ich die Gelegenheit habe. Die anderen Erwachsenen, die uns helfen wollten, sind doch auch alle eingeschlafen. Wenn ich ihn hypnotisieren könnte? Ich starre ihn an und wiederhole in Gedanken immer wieder: «Müde, müde, müde …» Er sieht aber nicht müde aus. Bedächtig trinkt er seinen Tee, er schlürft sogar ein bißchen. Ich muß ja immer gähnen, wenn ich in der Kirche das Vaterunser bete, das ist mir unangenehm vor Gott, aber ich schaffe es nie, ohne zu gähnen, durchzukommen. Es ist so lästig, daß man zum Beten aufstehen muß.
    «Können wir vorher noch mit ihnen das Vaterunser beten?»
    «Seid ihr denn getauft?»
    Ich bin richtig erleichtert, daß ich das bejahen kann. Das ist ihm bestimmt eine große Freude.
    «Und meine Oma hat abends immer mit uns gebetet, wenn sie zu Besuch war.»
    In Wirklichkeit fand ich das schrecklich, es reichte doch schon, daß man sich die Zähne putzen mußte. Inzwischen richte ich aber freiwillig lange Monologe an Gott, weil ich mich immer dafür entschuldige, ihn mit einer Bitte belästigt zu haben, und ihm dann auch noch mit meiner Entschuldigung die Zeit zu stehlen. Bei Oma Rakete hat mich gestört, daß sie «und erlöse uns von dem Übel» sagte, statt «von dem Bösen».
    «Ich halte es gar nicht unbedingt für richtig, mit Kindern zu beten. Dadurch werden Konflikte an einen anonymen Dritten delegiert, der keine Antwort gibt, statt sie rational mit seinem Gegenüber zu lösen.»
    «Aber jetzt bin ich es schon gewöhnt.»
    «Nun denn. Lasset uns beten. Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …»
    Es funktioniert nicht, ich muß zwar gähnen, aber bei ihm passiert nichts.
    «Und nun ins Bett mit euch, ihr Athleten Christi.»
    «Meinen Sie, daß es Gott recht ist, daß wir Sportler werden?»
    «Selbstverständlich, der Körper ist der Tempel Gottes. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man einem vergänglichen Siegerkranz nachjagt oder einem unvergänglichen. Habt ihr in der Konfirmandenstunde den ersten Paulus-Brief an die Korinther gelesen?»
    Mir schnürt es die Kehle zu, wir haben im Konfirmandenunterricht noch nicht mal gelernt, die Bibel an der richtigen Stelle aufzuschlagen. Man bekommt ja nicht dieSeite gesagt, sondern solche Namen wie Hezekiel und Habakuk, und eigentlich müßte man bis zur Konfirmation wissen, was wo in der Bibel steht. Wir spielen aber meistens mit dem Pfarrer Tischtennis in der Gruft der Kirche, wo die Mumien irgendwelcher Adliger liegen, denen Buch früher gehört hat. Die Franzosen oder die Russen haben mal einen davon raufgeholt und ihn, weil er steif gefroren war, in die Ecke gestellt, um ihm zuzuprosten. Seitdem ist er doch verwest.
    «Paulus sagt: Ich boxe nicht in die Luft, sondern treffe den eigenen Körper und mache ihn gefügig. Den Siegerkranz in diesem Kampf hat man für sich gewonnen und niemandem weggenommen. Wenn ein Christ mit sich kämpft, heißt der Sieger immer Christus. Der Tod ist verschlungen vom Sieg. Welche Sportart betreibt ihr denn?»
    «Sie soll Eisschnelläuferin werden und ich Diskuswerfer. Obwohl sie lieber Eiskunstläuferin wäre, und ich auch. Wir möchten gerne als Paar im Eistanz antreten, aber die Trainer sagen, daß es besser ist, wenn jeder von uns einzeln Olympiasieger wird, weil es dann gleich zwei Goldmedaillen wären. Aber Diskus ist sehr ungesund für den Rücken. Und außerdem ist es ja ursprünglich eine Waffe gewesen, und ich bin doch getauft. Ich würde meines Lebens nicht mehr froh.»
    «Der Sport sollte ein heiterer Kranz des Lebens sein. Aber das ist ein kleines Land mit einem großen Minderwertigkeitskomplex. Wenn man das schöne Geld lieber für etwas Sinnvolles einsetzen würde. Man könnte damit jüdische Friedhöfe instandsetzen.»
    «Aber die anderen Länder gewinnen doch auch gerne.»
    «Ich erinnere mich, wie ein Afrikaner barfuß Olympiasieger im Marathon geworden ist. Und mit dem Auto, daser als Siegerprämie bekommen hat, ist er tödlich verunglückt. Das erscheint mir gleichnishaft.»
    Gleichnis! Das Wort hatte uns unser Pfarrer nie richtig erklären können. Nur, weil Jesus sich in Gleichnissen äußerte, brauchte man die Pfarrer, um der Gemeinde zu erklären, was Jesus eigentlich gemeint hatte.
    «Die Afrikaner müssen immer morgens 20 Kilometer zur Schule rennen, deshalb sind sie so ausdauernd», sage ich.
    «Ja, wir wissen gar nicht, wie
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