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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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wir weder vor noch zurück. Eikemeldet sich als erster. Daß ausgerechnet Eike so mutig ist? Ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen, macht er sich auf den Weg. Ich beneide ihn, daß er es schon hinter sich hat. Ich bin aber auch ein bißchen neugierig auf die Gefahr, man will doch wissen, wie sich das anfühlt. Nach und nach schrumpft die Gruppe der Übriggebliebenen. Im Grunde braucht man jetzt mehr Mut, als wenn man schon weg wäre. Ich will nicht als letzter hier stehen, vielleicht bin ich hinter dem Zaun sicherer, ich bekomme plötzlich Panik, daß ich noch nicht drüben bin.
    Von dem, der irgendwo vor mir läuft, kann ich nichts sehen. Es ist aber gar nicht so dunkel, obwohl Nacht ist, man sieht durchaus noch seine Hand vor Augen. Mir ist aber, als würde ich in einen Abgrund fallen, wenn ich einen Schritt vom Weg abkomme. Ich versuche, an etwas Komisches oder Normales zu denken. Ich müßte mehr Gedichte auswendig wissen. Als Oma Rakete ins Gefängnis kam, weil man ihr als Leiterin der christlichen Bahnhofsmission Spionage vorwarf, haben ihr die Gedichte sehr geholfen, die sie sich in der Zelle aufsagen konnte. Das haben unsere Eltern uns immer klarzumachen versucht, daß man deshalb Gedichte lernen sollte, falls man einmal im Gefängnis sitzt. Ich stelle mir das eigentlich gar nicht so schlimm vor im Gefängnis, solange man Bücher lesen darf, von Karl May gibt es doch noch ungefähr hundert, die ich nicht kenne. Daß man wenig Platz hat, müßte auch auszuhalten sein, wir haben uns ja jahrelang ein Kinderzimmer geteilt.
    «Ich ging im Walde so für mich hin … Und nichts zu suchen, das war mein Sinn …» Auf Boviste
soll
man ja treten. Ich kann kaum atmen vor Angst. Aber wovor fürchte ichmich denn? Eigentlich doch nur vor Menschen. Wenn mir jetzt ein Fallschirmspringer begegnen würde? Von hinten ein Messer in die Nieren? Er darf mich nicht für einen Feind halten. «Ich bin doch noch ein Kind», muß ich denken. Vor Kampfschwimmern dürfte man ja hier sicher sein. Zur Not habe ich einen aufgesparten Silvester-Knaller dabei. Danach könnte ich den anderen nur noch mit der Taschenlampe blenden. Über mir der Sternenhimmel. Der Große Wagen. Das war eine der Enttäuschungen im Leben, daß oben gar kein richtiger Wagen zu sehen war, sondern daß die Sterne gemeint waren, zwischen denen man in Gedanken Verbindungslinien ziehen mußte, ohne daß sich daraus ein richtiger Wagen ergeben hätte. Ein Erwachsener würde jetzt bestimmt denken: Was für eine schöne Nacht, was für ein schöner Sternenhimmel, dafür haben Kinder noch keinen Sinn. Wenn ich die Taschenlampe auf den Weltraum richte und SOS blinke, dann wird es in Milliarden Jahren irgendwo empfangen werden. Ein Spritzer Licht, der bis in alle Ewigkeit weiterfliegt. Hinter den Wänden des Universums kommen Gebilde, die Quasare heißen, das habe ich einmal gelesen. Und
da
hinter? Andersrum gibt es neuerdings Quarks. Vielleicht sollte ich Astronom werden. Mit einem Fernrohr so weit gucken, bis irgendwo einer zurückguckt.
    In die Rinde mancher Bäume ist ein bestimmtes Muster gekratzt, Harz wird geerntet und tropft in Töpfchen, daraus werden dann mal Fahrradreifen. Es raschelt, ich bleibe stehen und halte den Atem an. Wartet da wer, daß ich weitergehe, um selber weiterzugehen? Jetzt raschelt es auch an anderen Stellen, das sind wohl Mäuse im trockenen Laub. Ich mache kurz die Augen zu, ob ich in der Dunkelheit überhaupt einen Unterschied bemerke. Ob es besserist, von Geburt an blind zu sein oder wenigstens noch eine Weile gesehen zu haben? Wenn man blind ist, muß man lernen, daß auf dem Teller bei «halb 3» die Erbsen liegen. «Die Männer von der 3-Punkt-Bande» sagen wir immer, wenn jemand eine gelbe Armbinde trägt. Das ist gemein, aber leider auch sehr lustig.
    Wenn ich jetzt der letzte Mensch bin, weil eine Neutronenbombe gefallen ist und ich als einziger überlebt habe? Dann müßte ich mit der Taschenlampe Motten fangen und verspeisen. Wenn meine Streichhölzer alle wären, würde es vielleicht noch an der ewigen Flamme in Berlin Feuer geben. Da warten wir immer auf die Wachablösung. Die beiden Soldaten rechts und links vom Eingang stehen auf einem Klingelknopf, damit sie genau gleichzeitig das Gewehr in die andere Hand nehmen können. Kann man mit dem Bajonett wirklich jemanden erstechen? Die müssen stundenlang stillhalten und dürfen keine Miene verziehen. Fratzen schneiden, sie zum Lachen bringen, das anspruchsvollste Publikum, das man
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