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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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wären und unendlich viel Geld hätten. Wir würden für immer im Ferienlager bleiben.
    Ich war zu Gaby gerufen worden, ins Lagerleiterbüro. Hatte ich wieder etwas Falsches geschrieben? Oder hatten sie rausgefunden, daß ich wußte, wo Peggy war? Aber dann saßen meine Eltern da. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es mir peinlich war, sie hier im Ferienlager zu sehen. Sie paßten irgendwie nicht hierher. Mein Vater hatte eine neue Brille mit Stahlgestell, und meine Mutter war beim Friseur gewesen. Gaby war ganz blaß, weil sie Neuigkeiten von Peggys Mutter hatte. Ich mußte ihr irgendwie eine Nachricht hinterlassen, aber ich konnte sie ja nicht verraten. Ich holte meinen Koffer aus dem Bungalow. Alle gaben mir die Hand. Hiroshima-Holger sagte: «Du Satansbraten.» Ich konnte in dem Moment kaum atmen vor Stolz. Die kleinen Mädchen, denen ich Spitznamen gegeben hatte, guckten ganz traurig. Ich war ihr Held, aber draußen wußte das niemand.
    Wir standen schon am Auto, da kam Jörg und brachte mir das Geld, das am Anfang von Wulf eingesammelt worden war, jeder hatte ja nur 10 Mark behalten dürfen.
    «Hast du ’n Stüft? Darf ich dir noch was auf den Gipsarm schreiben?»
    Sein Gips war schon vollgeschrieben wie eine Klotür. Nur an einer Stelle war noch Platz. In großen Buchstaben stand dort: «PAPAGENA». Ich schrieb darunter: «PAPAGENO».
    Der Wartburg sprang an, und wir fuhren auf der Chaussee am Lager vorbei, noch konnte ich die Bungalows am Waldrand sehen, dann das Schwimmbecken. Ich hatte das Gefühl, daß meine Eltern gar nicht wußten, wer ich war, weil sie die letzten Wochen nicht miterlebt hatten. Es hatte gar keinen Sinn, ihnen davon zu erzählen, weil es nicht möglich war, alles genau so zu beschreiben, wie es gewesenwar. Auf der Wiese hinter dem Lager war das Holz für das Feuer aufgeschichtet, wie ein großes Indianerzelt, heute abend würde es brennen. Eike würde mit strahlendem Gesicht Hocker aus unserem Bungalow anschleppen, um sie ins Feuer zu werfen, und Jörg würde ihn gerade noch davon abhalten können. Ich tat mir plötzlich so leid, daß ich das verpassen würde, mir war, als würde Gott ganz traurig werden, wenn er davon erführe. Ob sich wieder alle an der Weltzeituhr treffen würden?
    Meine Mutter reicht mir ein Nimm2. Ich verstehe nicht, wie das gehen soll, daß man immer zwei nimmt, dann muß man ja nach jedem Mal noch einmal doppelt so viele Bonbons nehmen und immer so weiter. Der Bonbon schmeckt, als würde man durch eine Wolke aus Orangensaft schweben. In der Hosentasche habe ich eine angebrochene Pfeffi-Packung. Es hätte gar keinen Sinn, meinen Eltern davon zu erzählen, wie Dennis mit Zombie-Zähnen aussah, sie haben es ja nicht gesehen. Es ist so traurig, daß mich zu Hause keiner versteht, sie wissen ja nicht mal, daß ich Auto fahren kann. Die kleinen, von meinen Händen klebrigen Pfeffis tun mir plötzlich leid. Ich pule mein Pflaster ab und reibe mit dem Finger an der Warze. Die Haut löst sich, darunter ist alles glatt. Das macht mich irgendwie noch trauriger. Ich weiß nicht mal ihren Nachnamen.
    Ich wollte doch immer ins Ausland. In Ungarn gibt es Berge von Wassermelonen und Danone-Joghurt, ganz normal in der Kaufhalle. Meine Eltern sind noch angespannter als sonst im Auto, Autofahren ist ja gefährlich, man kann jedesmal froh sein, wenn man mit dem Leben davonkommt. Sie wollen mir später etwas Wichtiges erklären, wenn wir eine Rast machen. Ob sie sich doch scheiden lassen?

1. Auflage. 2012
Für die deutsche Ausgabe:
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2012
Umschlaggestaltung: Anzinger/Wüschner/Rasp, München
Umschlagabbildung: © plainpicture
ISBN Buch 978 3 406 64698 0
ISBN eBook 978 3 406 64699 7

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