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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren
Autoren: Anna Paredes
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Prolog
    Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl auf dem Balkon und gab sich der sanft schwingenden Bewegung hin. Milde Luft umfing sie. Von Osten, von den Bergen her, zogen dunkle Wolken auf, ein fernes Donnern kündigte das nahende Gewitter an.
    Neben ihr auf dem Tischchen lagen zwölf Skizzenbücher, alle der Reihe nach nummeriert. Das erste hatte sie begonnen, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war, das letzte war erst zu drei Vierteln voll. Sie nahm die Bücher zur Hand und blätterte durch die Seiten. Tauchte ein in die eigene Vergangenheit, ließ die letzten einundzwanzig Jahre ihres Lebens an sich vorüberziehen. Staunte, schmunzelte und erinnerte sich.
    Schwester Hildegardis, die Naturkundelehrerin, wie sie den Schülerinnen eine Kamillenblüte erklärte. Die Eltern bei einem Spaziergang am Flussufer. Beide im Sonntagsstaat, standesgemäß und steif gekleidet. Die Mienen ausdruckslos, ohne Anzeichen dafür, was hinter ihrer Stirn und in ihrem Herzen vor sich ging. Eine Amsel im Garten des elterlichen Hauses, wie sie ihr Junges fütterte. Und dann ein Selbstporträt, ein Mädchen mit scheuen, fragenden Augen.
    Drei Bücher später ein weiteres Selbstporträt. Das einer jungen Frau mit unbeschwertem, strahlendem Lächeln, die großen, klaren Augen in eine Zukunft gerichtet, die weit außerhalb jenes Umfeldes lag, das sie bisher mit dem Zeichenstift festgehalten hatte. Und dann ein Szenenwechsel. Ein Schiff mit geblähten Segeln, das weite Meer, ärmlich gekleidete Menschen an Deck, Delfine, Pelikane, Felseninseln. Im nächsten Buch eine Landschaft mit atemberaubenden Ausblicken, mit Vulkanen, in die Tiefe rauschenden Wasserfällen und Hängebrücken. Mit Bäumen, die dicht an dicht weit in den Himmel emporragten, mit Farngewächsen und bizarr geformten Orchideenblüten, mit Affen, Echsen und Schmetterlingen.
    Porträts im nächsten Buch. Ein Mann, dessen makelloses Profil an das antiker Statuen erinnerte. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, winzig klein in der Wiege, etwas größer beim Versteckspiel im Park, später auf einem Pony reitend. Mit dem Kreidestift liebevoll und nuanciert festgehalten. Männer und Frauen mit breitkrempigen Strohhüten, die Früchte von mannshohen Sträuchern sammeln und in Körbe füllen, die sie mit einem Tuch um die Hüften gebunden haben. Ein hochherrschaftliches Haus, groß und prächtig wie ein Kirchengebäude. Daneben ein sich schlängelnder Bach mit einer kleinen Holzbrücke, am Ufer Schilfgräser.
    Zwischen diesen Buchdeckeln hatte sie ihr Leben festgehalten. Ein Leben, das von Drang, Hoffnung, Erwartung und Widerstreit geprägt war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Skizzenbuch Nummer fünf zur Hand nahm. Denn nunmehr wollte sie etwas betrachten, das sie sich über viele Jahre versagt hatte. Weil der Schmerz zu übermächtig gewesen war. Sie wusste genau, an welcher Stelle sie suchen musste, hatte es die ganze Zeit über gewusst und schlug die vorletzte Seite auf. Ihre Hände gerieten ins Zittern. Ein junger Mann schaute sie unverwandt an. Mit einem Lächeln, in dem so etwas wie Spott mitschwang, mit Grübchen neben den Mundwinkeln. Mit einem offenen Blick aus dunklen Augen und zerzaustem, welligem Haar, das bis in den Nacken reichte.
    Sie stöhnte leise auf und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die auf das Papier fielen. Ein zuckender Blitz fuhr unmittelbar vor dem Balkon nieder, und im selben Augenblick ertönte über ihr der Donner. Heftiger Regen prasselte herab, fiel schnurgerade auf die Erde.

BUCH I
    Drang

Februar 1848
    Wir müssen uns unverzüglich treffen! Morgen um halb fünf am Botanischen Garten. Ich habe Dir etwas Wichtiges mitzuteilen. A.
    So stand es in flüchtig hingeworfenen, leicht nach rechts geneigten Buchstaben in dem Briefchen, das ihr der Laufbursche überbracht hatte. Glücklicherweise hatte niemand von den Hausbewohnern etwas von dem unerwarteten Besucher bemerkt. Dorotheas Dienstherrin, Frau Rodenkirchen, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Damenzimmer aufgehalten, wohin sie sich nach dem Mittagessen zu einem Verdauungsschläfchen zurückzuziehen pflegte. Die beiden hoffnungsvollen Sprösslinge der Familie Rodenkirchen, Moritz und Maria, waren wegen eines verloren geglaubten Zinnsoldaten, eines Trommlers in blauer Uniform, in Streit geraten und daher mit sich selbst beschäftigt gewesen.
    Der Bote hatte die strikte Anweisung erhalten – erstens, während der Mittagsruhe unter gar keinen Umständen mit dem
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