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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Zahnbürste auch kein Buch für die langen leeren Stunden der Zugfahrt eingesteckt habe. Jetzt habe ich nicht einmal einen Schutzschild gegen meine Mitreisenden, hinter dem ich mich verbergen kann. Die nächsten zwei Stunden werden sich also endlos hinziehen, zumal ich nach gestern Nacht auch überhaupt nicht in der Stimmung für ein kleines erotisches Abenteuer bin. Sonst kann man sich damit immer gut die Zeit vertrieben, irgendwer findet sich immer, der bereit ist, mit dir zu flirten und eventuell sogar für einen Quickie aufs Klo zu verschwinden, auf das Behindertenklo, da hat man mehr Platz. Aber nicht heute, heute will ich nicht.
    Heute ist einfach wieder nur so ein Hasstag, und das sind die schlimmsten. Dass es mal wieder so weit gekommen ist, liegt ganz allein an mir, das weiß ich selbst, an meinem sprunghaften, verantwortungslosen Charakter. Der hat meine Beziehung zu Hannes auf dem Gewissen, den hält mir Klaus immer wieder vor. Er hält mir keine Standpauke, aber er predigt doch irgendwie. Blablabla. Ich höre natürlich nie zu, und trotzdem bleibt so viel von seinem Gerede hängen, dass ich mich schlecht fühle, schlecht und – an Tagen wie heute – schuldig. Dann würde ich am liebsten um mich schlagen und Tod und Zerstörung über die ganze Welt bringen. Als ob ich das nicht längst täte! Trotzdem, die hässliche Schachtel am Fahrkartenschalter vorhin hätte ich erwürgen können, als sie mir sagte, sie könne mir keinen Sitzplatz mehr reservieren, weil, wegen der Ferien sei alles ausgebucht.
    »Sie wollen mich wohl verarschen!«, schimpfte ich sofort los und hätte meine Hände nur allzu gern um ihren faltigen Truthahnhals gelegt. »Ich fahre erster Klasse, die ist nie ausgebucht.«
    »Es ist das erste Reisewochenende, es ist alles ausgebucht.«
    »Und was ist mit Expressreservierung?«
    »Ich sagte doch, es ist alles ausgebucht. Ich verkaufe Ihnen gerne einen Fahrschein erster Klasse, aber ich kann Ihnen keinen Sitzplatz garantieren.«
    »Was ist das denn für ein beschissener Service! Das ist ja mal wieder typisch Bahn. Erst ziehen sie einem noch das letzte Hemd aus, und dann darf man noch nicht einmal bei ihnen sitzen!«
    Ich wollte zu einer richtig bösen Tirade ausholen, während aus der Warteschlange in meinem Rücken, die einmal quer durch das ganze Reisezentrum und bis nach draußen vor die Tür reichte, erste Rufe, Unterstützung wie Protest, laut wurden. Doch ich ignorierte sie, ich brauche weder Hilfe noch mehr Gegner, ich brauche niemanden!
    Und so sitze ich also mit einem Erste-Klasse-Fahrschein in einem Großraumwagen der zweiten Klasse, beim Reisepöbel sozusagen, und ärgere mich schwarz. Ich hab den schlechtesten Platz von allen abbekommen, einen Einzelsitz direkt vor der Tür, an dem alles und jeder ständig vorbeikommt und es zieht, wenn immer diese Tür auf- und zugeht, und ich muss mich mit dem Zugmagazin, »Mobil« betitelt, abgeben, um mir die anderen wenigstens etwas vom Leib zu halten. Was nichts hilft, es schafft keine Distanz zwischen mir und den anderen. Sie nehmen keinerlei Rücksicht auf mein Bedürfnis nach Ruhe. Wieder und wieder brechen sie in meine Bannmeile ein, stoßen gegen meine Rückenlehne und rempeln sogar mich an. Einer Frau gelingt gleich das Kunststück, mir mit ihren wehenden Mantelschößen mein Magazin aus der Hand zu fegen, und obwohl sie sich gleich umdreht und mich um Entschuldigung bittet, möchte ich ihr doch einfach nur wie ein Kampfhund an die Kehle springen. Ich möchte sie beißen, kratzen, schlagen, mich auf ihren Rücken setzen, ihren Kopf bei den kastanienbraunen, mit Silberfäden durchsetzten Haaren greifen und ihre dumme Visage so lange in den Dreck des Ganges drücken, bis sie endlich begreift, dass man sich einfach nicht so rücksichtslos verhält, und sie sich sogar noch bei mir für die Lektion bedankt. Ich wäre ein guter Lehrer, denn mit Bosheit kenn ich mich aus, bin ich doch vermutlich der böseste Mensch auf Erden. Meine Bosheit, meine Verkommenheit ist ja erst so richtig teuflisch, dagegen ist ihre Tat an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Deshalb wird nichts aus meiner blutrünstigen Lehrstundenfantasie, darum reagiere ich schuldbewusst ob des kleinen Zwischenfalls und beuge mich selbst vor, um die Zeitschrift aufzuheben, und bitte selbst fast um Entschuldigung. Denn ich bin es ja, der hier nicht hergehört, der alles falsch gemacht hat und deshalb hierher verbannt wurde, in die zweite Klasse. Also kneife ich den Schwanz ein und
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