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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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Prolog: Murder on the Isle of Wight
    Die junge Frau war üppig, attraktiv und obendrein verabredet. Sie sah sich in der Halle suchend um und kam dann auf mich zu: »Wissen Sie, ob Mister Maitland schon eingetroffen ist?« In der Lounge und dem zum Rasen hin offenen Wintergarten waren zahlreiche Gäste zum Cocktail versammelt; einige, die man vom Frühstückstisch her kannte, andere offenbar von auswärts. »Um ehrlich zu sein«, sagte ich in gewähltem Englisch, »ich kenne, wenn man es genau nimmt, niemanden in diesem Haus. Aber fragen Sie den Manager nach Mister …« – Da hatte ich den Namen schon vergessen. Ich suchte nach dem Wirt und stellte ihn der jungen Dame vor. Dann ließ ich sie allein.
    Eine halbe Stunde später war sie tot. Man fand sie nah der Küche in der Wäschekammer, ausgestreckt am Boden liegend. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, doch ihre Locken und das blaue Cocktailkleid erkannte ich sofort. Ich hätte ihr vielleicht eine halbe Stunde davor besser helfen können, gerettet hätte ich sie damit aber nicht. Denn ihr Tod an diesem Freitagabend stand auf dem Programm, und das hieß »Murder Mystery«, ein Mordsgeheimnis, in der Tat, und der Gipfel aller Fragen war wie stets die Frage nach dem Täter: »Whodunnit?«
    In keinem Land wird der gemeine Mord so sehr als schöne Kunst betrachtet wie in England. Die größte Gräueltat wird hier noch zum Pläsier, vorausgesetzt, sie ist erfunden – und man kann im Schutz der Leselampe voll Behagen mit dem Helden Mörder jagen.
    Vom Detektivroman zur Mördersuche ist es dabei nur ein kleiner Schritt, und dieser Schritt ist auf der Insel mittlerweile so beliebt, dass sich an jedem Sommerwochenende in den Ferienhotels am Meer und auf dem Land die schönsten Todesfälle häufen. Auch Konferenzen, Dinnerpartys und Zusammenkünfte wohltätiger Zirkel werden erst durch eine Leiche zum Ereignis. Mag der Mörder auch der Gärtner sein: In jedem Fall ist er auch Schauspieler, der sich mit einer kleinen Handvoll von Kollegen in die Runde eingeschlichen hat und nun für einen Abend oder auch ein ganzes Wochenende lang mit falschen Fährten für die richtige Verwirrung sorgt, sehr zum Vergnügen der Gäste, die von Anfang an die erste Regel kennen: Der Täter ist unter uns. Auch unser Frauenmörder aus der Wäschekammer saß mit uns an irgendeinem Tisch, so viel war uns vorher zugesichert worden. Wir brauchten ihn bloß noch zu finden.
    Ein Inspektor in elegantem Zivil, der mit am Nebentisch gesessen hatte, hielt uns von der Leiche ab: der Spuren wegen, wie er sagte. Blut war nirgendwo zu sehen. Nur ein Bissen gebackener Käse lag nah der Toten auf dem Boden. Eine untersetzte alte Dame in der Runde schaute triumphierend zu mir auf: »Ganz klar, ein aufgesetzter Steckschuss!« Hatte sie tatsächlich mehr gesehen als wir alle, oder hatte sie am Ende nur mehr ferngesehen? Die Obduktion der Leiche würde es beweisen. Der Pathologe sei schon alarmiert, bemerkte der Inspektor. Wir sollten uns derweil das Abendessen munden lassen. Er habe obendrein die Handtasche der Toten sichergestellt und bitte daher alle ins Restaurant, an ihren Platz.
    Als Horsd’œuvre kam ein gebackener Camembert in Semmelbröselkruste auf den Tisch, der eine beklemmende Ähnlichkeit mit dem bisher einzigen Indiz vom Tatort aufwies. Ehe aber jemand sich ob dieser Peinlichkeit entrüsten konnte, trat Monsieur Hubert auf, Chefkoch eines Grandhotels in London, wie er stolz bemerkte, vorher im Savoy und im George V à Paris, »wuh sawee?« Mit einem südfranzösischen Akzent, der breiter war als seine Mütze hoch, verriet er das Rezept des raffinierten Camemberts und hielt die Zutaten auf einem weißen Teller hoch, bis ihn eine scharfe Stimme unterbrach. Sie kam vom Nebentisch, wo eine alte Lady die Erfahrung ihrer lebenslangen Haushaltsführung wie einen Fehdehandschuh in die Runde warf: »Monsieur Hubert! Wenn Sie jemals Chefkoch waren: Warum reden Sie von Camembert und zeigen uns stattdessen einen Brie?« Wir hatten eine erste Spur: einen Käse – und einen Verdächtigen!
    Simon Dabell, der Inspektor, kam zurück: Ob jemand bekannt sei mit einer Annabelle Burton? Niemand meldete sich, und auch als sich erwies, dass Annabelle die Leiche war, wollte niemand außer mir sie je gesehen haben. Das war unvorsichtig genug, denn nun holte der Inspektor aus ihrer Handtasche einen Kalender hervor und ließ aus Daten, Namen und Notizen die schöne Tote noch einmal lebendig werden: So hatte sie Monsieur
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