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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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Z uerst war da nur dieser Schmerz, der seinen ganzen Körper durchströmte. Dann begann das Pochen in seinem Kopf.
    Wie schon zuvor.
    Rouven wagte nicht, die Augen zu öffnen.
    Er lauschte. Er roch. Und er fühlte tief in sich hinein.
    Diese Leere.
    Diese Angst.
    Es fühlte sich an wie die letzten beiden Male.
    Allmählich steigerte sich seine Angst in Panik. Seine Befürchtung wurde langsam zur Gewissheit: Es war wieder geschehen.
    Nun war es an ihm, die Augen zu öffnen. Er musste sich dem stellen, was ihn erwartete.
    Sein Körper begann zu zittern.
    Alles in ihm sträubte sich.
    Rouven zwang sich dennoch dazu, die Augenlider zu bewegen. Er blickte sich um.
    Die Wohnung, in der er lag, kam ihm nicht bekannt vor. Ganz sicher war er hier noch nie zuvor gewesen.
    Er lag auf kalten Steinplatten, mitten in einem riesigen Raum. Er blickte auf einen Bildschirm. Auf einen Fernseher, der ebenfalls auf dem Boden lag. Zerbrochen.
    Darüber ein Stuhl, dessen Lehne tief in den Bildschirm ragte. Der Schrank dahinter war umgestoßen worden, von Stofffetzen übersät, die augenscheinlich von dem Sessel stammten, der vornübergekippt gegen den Schrank lehnte.
    Rouven ließ den Blick schweifen.
    Der ganze Raum bot ein einziges Bild der Verwüstung. Gerade so, als habe ein Hurrikan darin gewütet. Nur mit dem Unterschied, dass ein Sturm keine Polster zerschnitt. Nein, hier war ein Mensch am Werk gewesen. Mit unbändiger Wut oder in größter Angst.
    Rouven hatte genug gesehen. Dieser Anblick war nichts Neues für ihn. Bereits zum dritten Mal erwachte er in einer ihm völlig fremden Wohnung. Ohne zu wissen, wie er hierhergekommen war.
    Oder wann.
    Und vor allem: Warum?
    Er sollte aufstehen, sagte er zu sich selbst. Aufstehen und gehen. Und das alles hier schnell hinter sich lassen.
    Schon wollte er sich umdrehen, als erneut eine Schmerzwelle seinen ganzen Körper durchzog und er aufschrie. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er in dieser Sekunde in tausend Teile zerspringen.
    Rouven bewegte seinen Kopf dennoch. Die Schmerzen unterdrückend blickte er an sich herab: Sein Shirt war zerrissen. An seinem Arm klebte Blut, und an seiner Schulter spürte er einen Druck, als laste etwas tonnenschwer auf ihm.
    Er kämpfte gegen den aufkommenden Schmerz an und schaffte es, sich vom Boden zu erheben. Ihm wurde schwindlig. Beinahe wäre er wieder hingestürzt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich vorher an der Wand abzustützen. Allerdings nicht, ohne dass von der Schulter aus eine erneute Schmerzwoge durch seinen gesamten Körper zog.
    Zum zweiten Mal an diesem Morgen schrie Rouven laut auf.
    Seine Stimme hallte durch den riesigen Raum. Und erst jetzt bemerkte er die Stille, die alles hier beherrschte. Eine Stille, ebenso drückend wie das Gefühl in seiner Schulter.
    Rouven war sich bewusst, was nun seine eigentliche Reaktion auf dies alles sein musste. Er wusste, dass er nun durch die Räume eilen musste, um sich zu vergewissern, dass es keine weiteren Verletzten in dieser fremden Wohnung gab. Er wollte nachsehen, vielleicht helfen. Beistehen.
    Doch da gab es etwas Dringlicheres. Ein Drang in ihm, dem er nicht widerstehen konnte. Er war unfähig, dagegen anzukämpfen, denn so sehr er sich auch davor fürchtete, er musste sich Gewissheit verschaffen. Er musste wissen, was das alles mit ihm zu tun hatte.
    Und gegen allen Widerstand in seinem Inneren drehte Rouven sich um.
    Langsam.
    Mit klopfendem Herzen.
    Der Schweiß brach ihm aus, und er versuchte, sich selbst zu beruhigen, in diesen Bruchteilen von Sekunden, die er benötigte, um sich dem zu stellen, was ihn vielleicht erwartete.
    Doch es gelang ihm nicht, sich darauf einzustellen. Ein dritter Schrei erklang aus seiner Kehle. Der lauteste Schrei an diesem Morgen.
    Ein Entsetzensschrei.
    Ein Verzweiflungsschrei.
    Ein Schrei der Erkenntnis und der Gewissheit.
    Tränen schossen ihm ins Gesicht. Seine Beine versagten. Und so sank er völlig entkräftet und hilflos auf die Knie, während sein Blick fest auf die Eingangstür gerichtet war. Auf die Symbole an der Tür. Auf dieses »U«, das groß und breit in das Holz eingebrannt worden war. Und auf die Mondsichel darüber, ebenfalls mit enormer Hitze in die Tür eingebrannt. Eine schlanke Sichel, unter der sich das Bild einer Vogelkralle befand.
    Das alles versicherte Rouven, dass dies kein Zufall sein konnte. Dass es hier um ihn ging. Um ihn allein. Und dass er sich alledem nicht entziehen konnte.
    Seine Ängste und Befürchtungen bestätigten
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