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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Berchtesgaden, 29. Mai 2010
    Der Trichter zwischen Göll und Hohem Brett, zweihundertfünfzig Meter im
Durchmesser, ist das ganze Jahr mit Schnee und Eis gefüllt. Kein Mensch weiß,
wie mächtig das Eis darin ist, ob es zehn oder hundert Meter misst. Jetzt im
Frühjahr hat sich eine Kluft aufgetan zwischen dem schmelzenden Eis und dem
Fels, der nach Osten hin fast hundert Meter aufragt. Ein schmaler Pfad zwischen
Kluft und Felswand führt vom Göll hinüber zum Nachbargipfel.
    Der Mann ist mit Pickel, Seil, Stirnlampe, Haken und Karabinern nachts
vom Purtschellerhaus zum Hohen Göll aufgestiegen. Der Vollmond steht weiß am
wolkenlosen Himmel und taucht die Landschaft in ein kaltes Licht. Es erinnert
ihn an einen Anatomiesaal und die Schatten, die die Felsen werfen, an dunkle
Gestalten, die sich über einen Seziertisch beugen.
    Er ist allein aufgebrochen, und niemand ist ihm unterwegs begegnet. An
einer leichten Kletterpassage zur Göllflanke hinauf, die mit einem Stahlseil
versichert ist, hört er ein Geräusch hinter sich. Er sieht sich um, kann nichts
erkennen, nur viele schwarze Schatten. Ein Stein, den er selbst losgetreten
hat.
    Er kennt den Weg, steigt sicher auf. Wenn er sich umdreht und
hinuntersieht, starrt ihn nur der leere Felspfad an. Da ist niemand. Außer ein
paar Gämsen, die ihn von ihren Nachtplätzen aus gewittert haben. Die Stille
trägt jeden Laut. Vielleicht war es nur das Echo seines eigenen Tritts. Nach
weiteren zwei Stunden Aufstiegs ist er an seinem Ziel angekommen und findet
schließlich im Licht seiner Stirnlampe den orangefarbenen Punkt direkt neben
dem Eistrichter, den die drei am Tag davor auf den Fels gesprüht haben. Als er
ihnen gefolgt war.
    Er sucht einen Spalt im Fels, in den er einen Keil schlägt; daran hängt
er einen Karabiner und das erste Statikseil. Er schlägt einen weiteren Keil
ein, um ein zweites Seil zu befestigen. Mit zwei Steigklemmen seilt er sich in
die Randkluft ab. Eisbrocken, die sich zwischen Wand und Eis verkeilt haben,
versperren ihm den Weg. An seinen Seilen hängend, drischt er mit dem Pickel so
lange auf die Hindernisse ein, bis sie sich lösen und nach unten fallen. Er
zählt im Geist mit: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, dann schlagen die großen
Eisbrocken auf dem Boden auf. Er steigt weiter hinunter. Das Licht der
Stirnlampe reicht nicht aus. Er kann nicht erkennen, was unter ihm ist.
Zwischen Fels und Eis schwebend, greift er nach hinten und zieht eine
Magnesiumfackel aus der Seitentasche seines Rucksacks. Er schlägt sie mit dem
Schlagzünder gegen die Felswand, und ein gleißender Blitz leuchtet den dunklen
Raum aus.
    Er sieht, dass der Fels nach hinten weicht und sich direkt unter ihm eine
fast eisfreie Schachthöhle öffnet, die so tief ist, dass er ihren Boden trotz
der Fackel nicht erkennen kann. Er schätzt, dass das Trichtereis eine Dicke von
ungefähr dreißig Metern hat. Aber es gibt kein Hindernis, der Eingang zur Höhle
ist begehbar. Er wirft die Fackel in die Höhle hinunter. Sie fällt mindestens
hundertfünfzig Meter senkrecht nach unten. Dann weitet sich der Raum, und die
Fackel schlägt auf den Boden. Das Licht erlischt augenblicklich, und seine
Augen starren in eine Dunkelheit, von der seine schwache Stirnlampe nur einen
winzigen Ausschnitt beleuchtet.
    Er muss umkehren. Er hat nicht erwartet, dass es so tief nach unten geht.
Er hat gehofft, dass am Ende der Randkluft, nach einigen Metern, ein
Felsvorsprung, irgendein begehbarer Weg in einen Höhlengang führen würde. Die
Seile, die er dabeihat, sind viel zu kurz. Er muss abbrechen und am nächsten
Tag, wenn ihm das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht, mit längeren
Seilen wiederkommen.
    Er schiebt die erste Seilklemme nach oben. Wieder ist ihm, als höre er
ein Geräusch, das nicht von ihm selbst stammt. Er starrt hinauf in das kleine
Stück Nachthimmel über ihm. Im nächsten Moment spürt er eine Bewegung des
Seils, eine leichte, unheilvolle Vibration. Er greift ins Seil, will sich
hochziehen, und da beginnt er langsam zu begreifen.
    Während ihm die Angst, die auf die glasklare Erkenntnis dessen folgt, was
sich dort über ihm abspielt, fast den Brustkasten sprengt, verliert er auch
schon den Halt. Ein loses Seilende fällt von oben herab. Er hält sich mit
beiden Händen am zweiten Seil fest, spürt auch dort den Widerstand der
Seilfasern gegen die unbarmherzig scharfe Klinge eines Messers.
    Mit einem Schrei, der vom Eis und Schnee des Trichters gedämpft, von
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