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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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Lügen kamen mir wie von selbst über die Lippen, ich wusste einfach, das ist das, was Klaus hören will, so bekomme ich jeden Trost von ihm, nach dem es mich verlangt. Und es hat funktioniert, jedes Mal, jedes einzelne Mal.
    Noch während wir zusammen waren, fing ich mit dem Lügen an. Ich züchtete gleich eine ganze Kolonie von Lügenlarven, die in ihren Eiern vor sich hin brüteten und nur darauf warteten, zu schlüpfen und alles zu zerfressen, was ich mir mit ihm und bei ihm und durch ihn aufgebaut hatte. Karsten hatte ich zu einer langen und erfüllten Beziehung ausgebaut – für mich habe er sich geoutet und von seiner Frau getrennt. Unsere Liebe sei dann irgendwann einfach erloschen, unsere Wege schlicht auseinandergelaufen. Das soll ja vorkommen. Kein Drama, nirgends. Klaus hatte dafür vollstes Verständnis. In der Kaserne dann, als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr, will ich voll der wilde Feger gewesen sein, der die Dienstzeit für sich ebenso wie für seine Kameraden und Vorgesetzten in eine einzige ausufernde Orgie verwandelt habe. Die Armee als Fetischparty – lang lebe das Klischee! »Sich die Hörner abstoßen« nannte Klaus das. Und in Hamburg habe dann nichts anderes als die Kunst auf mich gewartet, die Ruhe in mein Leben gebracht und ausschweifende Ausflüge ins Sexuelle obsolet habe werden lassen. »Ich hatte mich endlich gefunden«, behauptete ich, und Klaus stimmte unumwunden zu: »Ja, so sieht es aus.« Wenn es doch einmal zu einem Techtelmechtel gekommen sei, denn ich war ja nie ein Mönch, dann sei dies natürlich vollkommen safe abgelaufen.
    »So soll es sein«, meinte Klaus, und in der Tat war das sein Dogma. Nicht aber meins, meins war es nie, und deshalb kann ich jetzt einfach nicht zu ihm fahren.
    Mein Zug, ein regennass glänzender ICE, fährt, aus Altona kommend, ein und öffnet seine Türen. Die Menschen stürmen ihn geradezu, als gäbe es etwas umsonst oder als wäre Gott weiß wer hinter ihnen her. Und ausgerechnet ich, hinter dem ja wirklich etwas her ist, komme da nicht mit. Ich schaffe es einfach nicht, mich in das Gedränge zu werfen, mich rücksichtslos durchzuboxen und den erstbesten Platz zu besetzen, der sich ergattern ließe. Ich bin einer der Letzten, der einsteigt, und muss bald eine halbe Stunde stehend und herumlaufend warten, bis sich das Gedränge dieses Menschengewitters so weit aufgeklart hat, dass ich die Situation überblicken und nach einem eventuell übrig gebliebenen Sitzplatz suchen kann. Anfangs sieht das alles andere als gut aus, selbst in der ersten Klasse scheinen überzählige Reisende zu stehen. Ich bin schon drauf und dran, mich einfach ins Bordrestaurant zu setzen, mir ist eh wieder nach heißem Tee mit Rum und Zitrone, meine Erkältung wird von Minute zu Minute stärker, und dort die Fahrt zu verbringen. Dann aber fällt mein Blick auf einen unbesetzten Platz in einem Erste-Klasse-Abteil, kurz entschlossen ziehe ich die Schiebetür auf, frage, ob der Platz tatsächlich noch frei sei, erhalte ein Ja zur Antwort und setze mich hin. Laut Schild ist der Platz eigentlich besetzt, aber solange der Passagier mit seiner Reservierung nicht auftaucht, ist es mein Platz. Ich niese und huste und putze mir mehrfach die Nase, wickle mich in meine Jacke ein, weil ich friere, obwohl sich mein gesamter Kopf inzwischen so heiß anfühlt, als wäre er mit flüssigem Erz ausgegossen, und hole schließlich den Eifel-Krimi hervor, um meine Nerven eventuell mit etwas Spannungsliteratur zu beruhigen.
    Ich komme nicht einmal bis zum Ende des Titels, schon haben mich meine Gedanken und Erinnerungen wieder verschluckt wie eine Grube voller Treibsand. Nachdem ich zwischen Karsten und Hamburg so lange enthaltsam gelebt hatte, was katapultierte mich dann mit einem Schlag in das pralle und zugleich gefährliche sexuelle Schlaraffenland der Großstadt? Nachdem ich Klaus in so vielen Dingen ständig belogen hatte, ohne deshalb ein sonderlich schlechtes Gewissen zu empfinden, was brachte mich dann plötzlich dazu, doch die Reißleine zu ziehen und mich bei Nacht und Nebel davonzustehlen? Was hatte hier wie dort von jetzt auf gleich alle Dämme brechen lassen?
    Es kam zu einem Streit mit Klaus, den einzigen echten, den es jemals zwischen uns gab. Bei diesem Streit ging es um ungeschützten Sex. Ich wusste da längst, wie Klaus zu der Sache stand, wusste um seine Rigorosität, um den alten Schrecken, den er damit verband, dass es ihm sogar schwerfiel, auch nur einen harmlosen Witz
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