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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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das Virus von ihm bekommen hat. Das alles ist Jahre her. Wer weiß, wo sie in der Zwischenzeit überall war!«
    »Sie ist eine gute und verantwortungsvolle Mutter gewesen«, ließ meine Mutter da ihren Vorurteilen freien Lauf, »ich kann mir nicht vorstellen, dass sie … dass sie da nicht vorsichtig gewesen ist.«
    »Hallo? Bist du blind und taub? Sie war jahrelang mit einem Schwulen zusammen! Das spricht nicht gerade für ein verantwortungsvolles Verhalten.«
    »Aber … er war doch nicht …«
    »Doch, Mama, er war. Er war schwul, stockschwul sogar.«
    »Aber warum hat er sie dann überhaupt geheiratet?«
    »Warum würde Papa mir am liebsten noch immer den Hals umdrehen, wenn er mich sieht?«
    Wir steckten in einer Sackgasse, was mir sehr willkommen war, denn es gab mir das gute Gefühl, ihren Angriff fürs Erste abgewehrt zu haben. Meine Stimme hatte zwar ihre Festigkeit zurückgewonnen, ich kläffte sie an wie ein scharfer Wachhund an der Kette, mein Leib jedoch war ein zitternder Wackelpudding, der jeden Moment auseinanderzufallen drohte. Solange ich mit meiner Mutter redete, mit ihr schimpfte und sie ob ihrer Naivität lächerlich machen konnte, solange ich mich an ihr ablenken konnte, war ja noch alles okay, nur was würde wohl passieren, wenn wir aufgelegt hatten und ich plötzlich mit der schrecklichen Wahrheit ganz allein dastand? Womit würde ich mich dann ablenken, um das Entsetzliche nicht denken, um mich dem Abgrund in mir nicht stellen zu müssen? Denn eins war mir längst klar, nach allem, was passiert war, konnte daran einfach kein Zweifel bestehen: Meine Mutter hatte berechtigten Grund zur Sorge, ihr kleiner Sohn schwebte in Lebensgefahr. Ich merkte, ich teilte ihre Sorge – und plötzlich fühlte es sich gut an zu wissen, dass da jemand war, der sich um mich kümmerte, der Anteil an meinem Schicksal nahm.
    »Mach bitte trotzdem den Test«, wiederholte sie, an der anderen Stelle nicht weiterkommend, ihre alte, flehende Bitte. »Sicher ist sicher.«
    »Okay, Mama«, lenkte ich ein und genoss ihre Erleichterung, die allein schon jeden Schrecken aufzuheben schien, mir mein Los erleichterte, »ich gehe gleich morgen hin und mache den Test.«
    »Danke. Und ruf mich sofort an, wenn du das Ergebnis hast – egal, wie es ausfallen mag, hörst du?«
    »Mach ich, versprochen.«
    »Was auch kommt, wir stehen das durch.«
    »Ja, Mama. Aber es wird schon nichts passiert sein, wir waren immer vorsichtig.«
    Kann man eigentlich einfach so in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen und einen Aidstest verlangen? Notfalls gaukelt man dem Personal dort eben die berechtigte Annahme vor, man könnte sich aus Versehen infiziert haben. – Draußen vor den Zugfenstern ziehen die ersten Häuser Spandaus vorbei, ich bin fast zu Hause. Es ist erst Nachmittag in Berlin, aber das Licht ist so trüb, als wäre es schon Abend. Und es ist immer noch Sonntag, mein Arzt ist immer noch im Wochenende und nicht in seiner Praxis. Es dauert noch Stunden, bis er in den Dienst zurückkehrt.
    Ich machte den Test nicht, ich log meine Mutter knallhart wegen des Ergebnisses an und meinte im ersten, wärmenden Glanz ihrer erneut umfassenden Erleichterung, es richtig gemacht zu haben. Und warum auch nicht?, fragte ich mich inzwischen ernsthaft. Warum sollte ich auch nicht verschont geblieben sein? Jahre waren seit meinem letzten sexuellen Kontakt mit Karsten vergangen, die Ehe mit seiner Frau ging erst einige Zeit später in die Brüche – viel Zeit also, um sich – und sie – erst danach infiziert zu haben. Ich war gesund, topfit, kein Anzeichen von Krankheit, höchstens mal eine kleine Erkältung dann und wann und eine ausgewachsene Magen- und Darmgrippe. Außerdem war ich doch auch noch so jung, ich konnte einfach kein Aids haben, das wäre unfair! Das hätte ich nun wirklich nicht verdient! Warum sollte ich für die Sünden der anderen büßen?
    Ein paar kurze Wochen hielt ich mich mit diesem Geschwurbel moralisch über Wasser, dann rief meine Mutter wieder bei mir an, um mir mitzuteilen, man hätte Karsten Hinrichsen, der ja nach dem Auffliegen seines Doppellebens auf Nimmerwiedersehen und nur ein paar wilde Gerüchte zurücklassend aus der Gegend verschwunden war, endlich ausfindig gemacht. »Auf einem Friedhof in Dortmund …«, verkündete sie schicksalsschwer, »wo viele AIDS-Tote liegen.«
    »Dann weißt du also genau, dass er an Aids gestorben ist?«, hakte ich nach.
    »Nein, nicht genau.«
    «Du vermutest es also nur?«
    »Na
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