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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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Wichtige Zigaretten
    Im Bus suchte Lev sich einen Platz ganz hinten, und er lehnte sich ans Fenster und starrte hinaus auf das Land, das er verließ: auf die vom trockenen Wind verdorrten Sonnenblumenfelder, die Schweinefarmen, die Steinbrüche und Flüsse und auf den wilden Knoblauch, der grün am Straßenrand wuchs.
    Lev trug eine Lederjacke und Jeans und eine tief ins Gesicht gezogene Lederkappe, sein hübsches Gesicht war grau vom Rauchen, und in seinen Händen hielt er ein altes rotes Baumwolltaschentuch und ein zerdrücktes Päckchen russischer Zigaretten. Bald würde er 43 Jahre alt sein.
    Nach einigen Kilometern, die Sonne ging gerade auf, zog Lev eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen, und die Frau, die neben ihm saß, eine pummelige, zurückhaltende Person mit Leberflecken im Gesicht, die wie Schmutzspritzer aussahen, sagte sofort: »Entschuldigen Sie, aber in diesem Bus ist Rauchen nicht erlaubt.«
    Das wusste Lev, hatte es schon im Voraus gewusst und versucht, sich seelisch auf die lange Qual vorzubereiten. Aber selbst eine unangezündete Zigarette war eine Gefährtin − etwas zum Festhalten, ein Versprechen −, und das einzige, wozu er sich jetzt bereit fand, war, zu nicken, einfach um der Frau zu zeigen, dass er sie verstanden hatte, um ihr zu signalisieren, dass er keinen Ärger machen würde; denn sie würden noch fünfzig Stunden oder länger nebeneinander sitzen müssen, mit ihren jeweiligen Schmerzen und Träumen, wie ein verheiratetes Paar. Sie würden einander schnarchen oder seufzen hören, würden riechen, was beide zu essen und zu trinken mitgenommen hatten, spüren, wie groß ihre Furcht oder ihre Unbekümmertheit war, würdenkleine Unterhaltungsversuche wagen. Und später, wenn sie endlich in London angekommen wären, würden sie sich wahrscheinlich fast ohne Worte oder Blicke trennen, würden, jeder für sich, in einen regnerischen Morgen hinaustreten und ein neues Leben beginnen. Und Lev wusste, dass all dies seltsam, aber notwendig war und ihm schon etwas über die Welt verriet, in die er fuhr, eine Welt, in der er bis zum Umfallen arbeiten würde − wenn sich denn eine solche Arbeit finden ließ. Er würde sich von anderen Menschen fernhalten, würde Ecken und Winkel finden, wo er sitzen und rauchen könnte, würde zeigen, dass er keine neue Heimat brauchte, dass sein Herz in seinem eigenen Land blieb.
    Es gab zwei Busfahrer. Diese Männer würden sich mit Fahren und Schlafen abwechseln. Es gab eine Bordtoilette, weshalb der Bus nur zum Tanken haltmachen würde. An den Tankstellen würden die Passagiere vielleicht aussteigen, ein paar Schritte tun, Wildblumen an einem Seitenstreifen, schmutziges Papier in den Büschen, Sonne oder Regen auf der Straße betrachten. Sie würden die Arme recken, dunkle Brillen gegen den Ansturm natürlichen Lichts aufsetzen, nach einem Kleeblatt Ausschau halten, rauchen oder vorbeifahrende Autos anstarren. Dann würden sie zurück in den Bus getrieben werden, würden ihre alten Haltungen wieder einnehmen, sich wappnen gegen die nächsten paar hundert Kilometer, gegen den Gestank eines weiteren Industriegebiets oder das plötzliche Aufglänzen eines Sees, gegen Regen und Sonnenuntergang und das Nahen der Dunkelheit über stillem Sumpfland. Zwischendurch würde es Zeiten geben, in denen die Reise scheinbar kein Ende nehmen würde.
    Im Sitzen zu schlafen war etwas, das Lev nicht gewohnt war. Die Alten schienen es zu können, aber 42 war noch nicht alt. Levs Vater Stefan hatte manchmal im Sitzen geschlafen, im Sommer, auf einem harten Holzstuhl, während seiner Mittagspause in der Baryner Sägemühle, wenn die Sonne auf die in Papiergewickelten Wurstscheiben auf seinem Knie und seine Thermoskanne mit Tee brannte. Stefan und Lev konnten beide ausgestreckt auf einem Heuhaufen oder einem Moosteppich im Wald schlafen. Häufig hatte Lev auf einem Flickenteppich neben dem Bett seiner Tochter geschlafen, wenn sie krank war oder sich fürchtete. Und als seine Frau Marina im Sterben lag, hatte er fünf Nächte lang zwischen Marinas Krankenhausbett und einem Vorhang mit rosa- und lilafarbenen Gänseblümchen geschlafen, auf einem Stück Linoleum, nicht breiter als sein ausgestreckter Arm, und der Schlaf war auf eine verwirrende Weise gekommen und gegangen und hatte seltsame Bilder in Levs Gehirn gemalt, die nie ganz verschwunden waren.
    Gegen Abend, nach dem zweiten Tanken, wickelte die leberfleckige Frau ein hart gekochtes Ei aus. Sie pellte
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