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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen
Autoren: Petra Oelker
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    1744
    In einer Septembernacht
    Sie blickte auf ihre Hände und wunderte sich, dass sie aussahen wie immer. So wie vor vier Wochen, wie vor drei Monaten, wie vor einem Jahr. Dann musste auch ihr Gesicht aussehen wie immer. Wie im letzten September. Das wusste sie nicht, denn in der kleinen Reisekiste, die man ihr eilig gepackt hatte, war kein Spiegel. Sie war sicher, dass er nicht einfach vergessen worden war. Niemand sollte sie sehen, nicht einmal sie selbst. Sie hätte sich gerne noch einmal gesehen. Aber vielleicht war auch das nur eitel. Sie hatte gesündigt, unverzeihlich und unaufhebbar. Sie war verlassen worden, und man hatte sie fortgeschickt. Es machte jetzt keinen Sinn mehr, zurückzuschauen.
    Sie hob den Kopf und sah über das Meer in den Himmel, und zum ersten Mal, seit sie auf diesem Schiff erwacht war, hatte sie keine Angst.
    Heute würde sie allem entkommen. Allem, was sie sich und den anderen angetan hatte. Sie würde Ruhe finden. Und vielleicht konnte Gott ihr verzeihen. Gott war gut und voll der Gnade, so hatte sie es gelernt. Sie war sich nicht mehr sicher, ob die Menschen ihm darin tatsächlich nacheiferten. Aber auch das war wohl nur ein eitler Gedanke.
    Die Segel des Dreimasters blähten sich stolz, der Wind trieb das Schiff ruhig, aber eilig über das Meer. Als sie zum ersten Mal an Deck gekommen war, mitten in der Nacht vor drei, nein, vor vier Nächten, war ihr als Erstes die Stille aufgefallen. Zu Hause, wenn der Wind von der Elbe kam und um das alte Haus mit den hohen Giebeln jagte, heulte er doch immer so laut. Er zerrte an den Ästen der großen Buche vor ihrem Fenster, und es klang, als brächte er ganze Scharen von Geistern und Kobolden mit, vom Meer im Norden, von den weiten Heideflächen im Süden oder aus der Tiefe des breiten Flusses. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, warum es auf einem Segelschiff, selbst wenn es vom Wind gejagt wird, so still ist. Weil ein Schiff, so hatte er gesagt, niemals schneller ist als der Wind, der es über das Meer treibt. Das Rauschen höre nur, wer schneller sei, wie ein Reiter im Galopp, oder wer sich gegen den Wind bewege. Der Lärm in den Ohren, hatte er noch hinzugefügt, sei eine Warnung, denn wer sich gegen den Wind stelle, wer ihn gar überholen wolle, laufe immer Gefahr, zu fallen. Der gerade herrschende Wind sei stets stärker, wer auf See lebe, zweifele niemals daran.
    Dieses Schiff, sie wusste nicht einmal seinen Namen, flog sicher mit dem Wind über das Meer nach Süden. Da war nichts als ein Rauschen, ein Singen in der Leinwand, nur das Tauwerk und die Taljen, ein anscheinend unentwirrbares, tatsächlich aber wunderbar geordnetes Gefüge, schlugen an die Wanten, an die Reling und an die Masten, die wie dicke spitze Finger in den Himmel wiesen.
    Die Reling war niedrig. Es würde ganz einfach sein. Sie war dankbar, dass die See so ruhig war, denn auch wenn sie am Wasser aufgewachsen war, hatte sie es immer gefürchtet. Wegen seiner unberechenbaren Kraft und wegen der Geschichten, welche die Leute erzählten, diese Geschichten von fremdartigen wilden Wesen, die auf dem Meeresgrund lebten. Als Kind hatte sie immer wieder davon gehört, mit wohligem Grausen, denn das feste Land unter den Füßen verlieh Mut. Aber nun machte sie die Erinnerung an die unheimlichen Mächte der Tiefe schaudern.
    Sie sah zu den Sternen auf und bedauerte, dass sie so wenig über sie wusste. Seit Urzeiten halfen sie, den Weg über die Meere zu finden. Und ganz ohne Zweifel waren sie auch schön. Aber ihr kaltes Flimmern war von grausamer Schönheit. Waren sie nicht noch beängstigender als das Meer? Das schien nur unendlich, aber es gab doch immer irgendwo eine Küste, die Hoffnung auf Heimkehr. Die Welt der Sterne hingegen war unendlich – wie leicht regten sich angesichts dieser Unendlichkeit Zweifel daran, dass es einen Gott gab. Und das Vertrauen in Gottes Existenz brauchte sie heute mehr denn je.
    Sie erhob sich von der Kiste, auf der sie gesessen und in den Himmel gestarrt hatte, und trat an die Reling. Das Wasser glitzerte schwarz.
    «Ich bin sehr froh, dass es Euch bessergeht.» So sanft die Worte waren, so fest war der Griff der Hand, die sich um ihren Ellbogen schloss. «Verzeiht, wenn ich in Eure Gedanken einbreche. Aber ich bin so kurz vor Morgengrauen oft schlaflos, und … Nun, ich dachte, vielleicht geht es Euch ebenso …?»
    Sie musste sich nicht umsehen, sie hatte die Stimme des Kapitäns sofort erkannt. Sie klang rauer
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