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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen
Autoren: Petra Oelker
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als sonst, aber das lag gewiss an der frühen Stunde, und er ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken.
    «Ihr betrachtet die Sterne», fuhr er fort, ohne ihren Arm loszulassen, und sie dachte, dass seine Hand wärmer sein müsste. Aber sie war kalt, wie auch ihre eigenen Hände, und plötzlich spürte sie, dass sie fror. Obwohl es doch immer unangenehm war zu frieren, machte dieses Frösteln, das seine Berührung hervorrief, ihr Herz seltsam leicht.
    «Ja», sagte sie, «die Sterne. Ich weiß fast nichts über sie.»
    Er ließ ihren Arm immer noch nicht los, aber der Griff seiner Hand wurde sanfter.
    «Kommt mit mir zum Bug, ich werde Euch den Sirius zeigen. Er ist der hellste von allen, und der Tröster auf See. Wusstet Ihr, dass auf See jeder einen Tröster braucht? Selbst wenn die Nächte so warm sind wie diese?»
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, führte er sie über das Deck. Sein Schritt war sicher, das Wiegen des Schiffes, das sie immer wieder schwanken ließ, schien er nicht wahrzunehmen. Wie lange mochte er schon auf Schiffsplanken zu Hause sein? Zehn Jahre? Zwanzig? Sie sah ihn an, prüfend, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Er war nur ein wenig größer als sie, und sein Gesicht mit den schmalen Lippen, den tiefliegenden Augen unter kräftigen dunklen Brauen, der vom Leben auf dem Meer gegerbten Haut, war dem ihren nah. Ein Gesicht, das nichts verriet.
    Einen Moment lang dachte sie an die Wesen in den kalten Untiefen, von denen die Leute erzählten, dass einige zuweilen für einen Sommer auftauchten und in Menschengestalt über die Meere jagten. Aber sie ließ sich willig führen.
    Obwohl er ihren Blick gespürt haben musste, hatte der Kapitän ihn nicht erwidert. Er sah nach Süden, dorthin, wo sich das Vorsegel vor dem Nachthimmel blähte.
    Entschlossen straffte sie den Rücken, knüpfte die losen Bänder ihrer weißen Haube und folgte seinem Blick. Sie atmete tief, fühlte die feuchte Salzluft auf ihrem Gesicht und fand plötzlich gleichgültig, was gestern gewesen war und was morgen sein würde. Jetzt stand sie auf diesen wiegenden Planken, gehalten von einer kalten Hand, unter einem Himmel, der aussah wie ein unendliches, von Juwelensplittern besetztes Samttuch, erdrückend und verheißungsvoll zugleich.
    Morgen blieb genug Zeit. Oder übermorgen. Es waren noch vier Nächte bis Lissabon.

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    1766
    1. Kapitel
    Mittwoch, den 11. Junius,
nachmittags
    Der Mann und das Pferd mochten sich nicht. Das sah man gleich, wenn man auch nur ein wenig von Pferden und von Männern verstand. Beide zogen störrisch die Oberlippe über die Zähne, der Reiter hielt die Zügel zu kurz, die Trense schnitt ins schaumige Maul, und der große Apfelschimmel tänzelte immer wieder steifbeinig mit dem breiten Hinterteil zur Seite. Der Mann schwitzte. Das Pferd auch. «Verdammt, Paladin, benimm dich wie ein anständiger Gaul», knurrte der Reiter schließlich, «wir sind ja bald zu Hause.»
    Eigentlich hieß das Pferd Gret, aber er nannte alle seine Pferde Paladin, und alle hörten bereitwillig auf den Namen, den er vor zwanzig Jahren seinem ersten Pony gegeben hatte. Nur dieses nicht. Wahrscheinlich, weil es gar nicht seines, sondern nur eins aus dem Mietstall an der Finckentwiete war. Johann Friedrich Struensee, so hieß der Reiter, war der Stadtphysikus von Altona, und natürlich besaß er auch ein eigenes Pferd, aber das hatte sich von einer Kolik in der letzten Nacht noch nicht erholt und stand dösend und rülpsend in seinem Stall an der Königstraße.
    Ein dünner Blitz zitterte über den trüben Nachmittagshimmel, und obwohl der Donner ausblieb, hatte Paladin nun wirklich genug. Entschlossen stemmte er die Vorderbeine in den Sand und blieb mit einem Ruck stehen. Zornig sprang Struensee aus dem Sattel, eine Staubwolke wirbelte auf und legte sich klebrig auf Pferd und Reiter.
    «Na gut, du dummes Tier, machen wir eben eine Pause. Obwohl du sie nicht verdient hast.»
    Er ließ die Zügel los, und der Apfelschimmel trottete, von der harschen Kritik völlig unbeeindruckt, über die von der brennenden Sonne fast verdorrte Wiese zu den Linden und Kastanien, die entlang den Bahnen der Reepschläger Schatten boten.
    Struensee war die Pause recht. Der Weg zwischen Hamburg und Altona, sonst um diese Stunde voller Fuhrwerke und Kutschen, Reiter und Fußvolk, lag öde unter der verhangenen Sonne. Er lehnte sich an einen dicken Stamm, blickte zurück auf die Wälle und die Türme der Stadt, aus der er gerade
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