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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen
Autoren: Petra Oelker
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aus blassblauem Tuch. Entschlossen rollte er ihn zusammen und stopfte ihn in die Satteltasche. Stadtphysikus hin oder her, heute war nicht der Tag für ordentliche, sondern für möglichst wenig Kleider.
    «Komm, Paladin, du stolzer Renner», sagte er und schwang sich in den Sattel, «in zehn Minuten sind wir zu Hause.»
    Vielleicht lag es an der geteilten Wasserration, vielleicht war das Pferd auch einfach zu schläfrig, um noch Widerstand zu leisten. Es trottete brav über den staubigen Weg, warf nur einen verächtlichen Blick auf den trüben Teich an der Grenze und trug seinen Herrn durch das Nobistor, nicht viel mehr als eine bescheidene hölzerne Grenzmarkierung zwischen hamburgischem und dänischem Gebiet, nach Altona hinein.
    Der Arzt brachte den Apfelschimmel in den Mietstall zurück, nahm seine Tasche und machte sich auf den Heimweg in die Königstraße. Dort wollte er ein frisches Hemd anziehen, um anschließend der neuen Gebärstation im Zuchthaus einen Besuch abzustatten.
    In der Neuenburgsgasse stand die Luft. Auch über Altona, sonst kaum minder geschäftig und lärmend als Hamburg, hatte die schwüle Hitze eine eigentümlich explosive Stille gelegt. Hinter einem Hoftor gackerten ein paar Hühner, irgendwo beschimpften sich kurz und kräftig eine tiefe und eine hohe Stimme, eine dicke schwitzende Frau schob ihre mit Körben tropfender frischer Wäsche beladene Karre die Gasse hinunter. Plötzlich sauste ein kleines schwarz geflecktes Schwein panisch quiekend an Struensee vorbei, eine ganze Horde von Kindern rannte lärmend hinterher. Sie sahen ihm eins wie das andere aus: alle blond, alle rotznasig, alle in staubigen Kleidern und ohne Schuhe. Er erkannte nur einen kleinen Rotschopf, der trotz seines steifen Beines wacker hinter den anderen herflitzte. Im letzten Jahr hatte er das Faulfieber überlebt, obwohl selbst Struensee, der nie an den Tod glauben wollte, ihn schon aufgegeben hatte.
    «Lorenz», rief er und erwischte den Jungen gerade noch am Ärmel. «Was ist los, wo wollt ihr alle so schnell hin? Das Schwein einfangen?»
    «Ach was, das Schwein! Lass mich los, Doktor. Lass mich doch los!»
    «Hat’s ein Unglück gegeben?»
    «Kein Unglück. Akrobaten sind da. Die machen was vorm Rathaus. Hörst du nicht die Flöte? So lass mich doch los, die anderen …»
    Struensee gab ihn frei und sah dem flink davonhumpelnden Jungen nach. Hoffentlich hatte er ein paar besondere Gaben mitbekommen, sonst würde er immer der Letzte sein, und der Erste, den man bei Gaunereien wiedererkannte und schnappte. Rote Haare, ein steifes Bein, der Vater beim Walfang irgendwo vor Grönland verlorengegangen – ein Wunder, dass er mit seiner Mutter und den vier Geschwistern noch nicht in den Armenhäusern am westlichen Stadtrand gelandet war.
    Nun hörte er die Flöte auch, und ihrem ein wenig schrägen Klang folgend bog er in den weiten Marktplatz ein.
    Eine dichte Menge stand im Halbkreis Schulter an Schulter vor dem Rathaus, das – sieben Doppelfenster breit und fast so hoch wie St. Trinitatis – zu den stolzesten Gebäuden der Stadt zählte. Der Pranger mit der groben steinernen Säule stand nur wenige Schritte entfernt hinter seinem eisernen Gitter. Struensee, den es vor diesem Ort öffentlicher Demütigung ekelte, bemerkte erleichtert, dass er heute leer war.
    Er konnte die Akrobaten hinter all den Menschen nicht sehen. Er sah nur ein Kind mit weißblonden Kräusellocken, das auf der Brüstung zwischen den Säulen unter dem hohen Balkon, der den Eingang überdachte, mit hochrotem Kopf und runden Backen in die Flöte blies. Aber das war ihm genug. Schnell drängte er sich durch die Menschenmauer, und wenn zuerst auch gemurrt wurde, teilte sich die Menge bereitwillig, sobald man ihn erkannte. Struensee war erst 28  Jahre alt, aber schon seit fast acht Jahren Stadtphysikus. Unter seinen Kollegen und auch unter den Pastoren hatte der Amts- und Armenarzt sich zwar viele Feinde gemacht, aber von den ganz Armen und den ganz Reichen wurde er verehrt oder zumindest respektiert.
    Vor den Akrobaten drängten sie sich nun alle ohne Unterschied. Auf dem von vier dünnen Säulen getragenen Balkon vor dem Ratssaal im ersten Stock lehnten sich sogar zwei Ratsdiener gemeinsam mit Bürgermeister Baur einträchtig über die Balustrade. Die Perücken, bei dieser Schwüle unerträgliche Requisiten ihrer Amtswürde, hatten alle drei wie Hüte unter den Arm geklemmt. Struensee grinste. Er war schon immer von der heilsamen und
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