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Die Tochter der Konkubine

Die Tochter der Konkubine

Titel: Die Tochter der Konkubine
Autoren: Pai Kit Fai
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entfernt.« Sie streckte die Hand aus und hinderte Sing daran aufzustehen.
    »Momentchen, ich bin noch nicht fertig. Wir müssen darüber nachdenken. Es hat zwei Jahre gedauert, ehe er dieses Zimmer verlassen konnte. Er wollte nicht, dass jemand sieht, was von ihm übriggeblieben war, und so musste ich ihm schwören, niemandem zu erzählen, dass er noch am Leben war. Das heißt, niemandem außer Ihnen, nicht einmal seinem Partner Indie da Silva.«
    Aggie nahm Sings Gesicht in ihre warmen Hände, als wäre es eine wertvolle Blume. »Ich glaube nicht, dass er je aufgegeben hat, auf Sie zu warten … Er sagte, Ihre Mutter spreche mit ihm, sie habe ihm gesagt, Sie würden kommen. Gehen Sie es behutsam an, aber seien Sie darauf gefasst … Sein Körper hat ihn im Stich gelassen, und er wurde schrecklich verletzt.«
    Sing konnte nicht länger gegen die Tränen ankämpfen, denen sie sich so lange verweigert hatte. Ob es Tränen des Glücks oder der Trauer waren, konnte sie nicht sagen. Aggie nahm sie sanft bei der Hand, zog sie zum Fenster und schob den Chintzvorhang beiseite.
    »Dort unten, bei der alten Anlegestelle, ist ein Sitzplatz mit Blick auf den Fluss. Er hat ihn mir als Junge gebaut, und er steht noch immer wie eine Eins. Dort verbringt er seine Zeit, lauscht den Stimmen des Flusses und füttert die Vögel.« Sie führte Sing mit einer weiteren festen Umarmung zur Tür und sagte mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: »Ich muss Ihnen sagen, dass er nichts mehr sehen kann, doch sein Geist ist noch immer stark. Sämtliche Feuer des Hades konnten ihn nicht verbrennen.«
    Als Sing allein die Stufen hinabstieg, empfand sie zum ersten Mal in ihrem Leben echte Furcht. Furcht davor, was sie sehen würde, was sie sagen würde, wie sie es sagen würde, was er von ihr halten würde.
    Die gekrümmte Gestalt, die ihr den Rücken zukehrte, saß reglos
da, nur ab und zu warf sie einer Schar Möwen ein paar Brotkrumen zu. Angetan mit einer verblichenen Öljacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, drehte er sich beim Flattern der Flügel halb um, als würde er ihre Gegenwart spüren.
    »Bist es du, Aggie? Du lieber Himmel, dafür, dass du wie ein Schlepper gebaut bist, verstehst du es aber, dich an einen Mann heranzuschleichen!«
    So unvermittelt, wie sie gekommen war, verschwand Sings Unsicherheit wieder. Sie sah seine Hand, deren vordere Fingerglieder fehlten und mit der er den Vögeln problemlos Krumen zuwarf. Licht, das auf dem Wasser tanzte, erhellte kurzzeitig sein Gesicht, das so entstellt war, dass ihr der Atem stockte. Sie sprach mit großer Zärtlichkeit.
    »Ich bin es, Vater. Deine Tochter. Ich heiße Siu-Sing … das bedeutet Kleiner Stern.« Sie ergriff seine Hand, legte ihm den Handschmeichler aus Jade hinein und schloss die verkrüppelten Finger darüber.

    Die folgende Woche über waren Sing und ihr Vater unzertrennlich. Ihre gemeinsamen Tage liefen immer nach demselben Muster ab: Morgens um sechs aßen sie eine Schüssel von Aggie Gates’ »Burgoo«, dem nautischen Ausdruck für Porridge, das sie leicht salzten, und tranken heißen, süßen Tee. Danach nahm Ben seine beiden Gehstöcke und fand seinen Weg mit Sing an seiner Seite, ohne dass jemand ihm dabei geholfen hätte, sicher durch die Obstbäume zu der Bank. Dort nahmen sie das Gespräch da wieder auf, wo sie es am Abend zuvor um sieben beendet hatten. Mittags brachte Aggie ihnen einen Korb mit seinen Lieblingsbrötchen, die mit Käse und Corned-Beef belegt und so groß waren, dass ein Pferd daran hätte ersticken können. Dazu eine Thermoskanne Tee mit Rum und Früchte aus eigenem Anbau.
    Zu keinen Tränen und großen Gefühlen mehr in der Lage, beinahe schon über Freude und Gelächter hinaus, unterhielten sie sich jeden langen und angenehmen Tag hindurch. Als sie auf das Thema »Arzt« zu sprechen kam, wurde seine Stimme scharf und bestimmt.
»Du bist die einzige Medizin, die ich brauche.« Er gab ein krächzendes Lachen von sich. »Erzähl mir also einfach alles, was ich wissen muss. Li-Xia lächelt heute auf uns herab, und außer deiner Stimme gibt es nichts, was ich hören muss.«
    Sie erzählte ihm von ihrem Leben und davon, was sie von seinem wusste: von den Kindheitsgeschichten, die Fisch weitergegeben hatte; Meister To; von der Hütte am See und der Reise, die sie schließlich zu ihm geführt hatte. Als sie vorschlug, er solle sich ausruhen - für die Reise zur Villa Formosa müsse er bei Kräften sein -, schüttelte er den Kopf. Er
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