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Die Tochter der Konkubine

Die Tochter der Konkubine

Titel: Die Tochter der Konkubine
Autoren: Pai Kit Fai
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Wäldchens, mit Blick auf das Meer, befand sich ein ganz und gar von Wildveilchen überwachsener Hügel. Angus kniete sich hin, um den Bewuchs vieler Jahre zu entfernen, der den Grabstein verbarg, wischte mit einem Taschentuch die rosenfarbene Quarzplatte ab und trat zurück, damit sie die tief eingemeißelte, goldene Schrift lesen konnte:
    HIER LIEGT EINE GELEHRTE. SIE HIESS LI-XIA DEVEREAUX.
    1906-1924
    Sie lief vor niemandem davon und versteckte sich vor nichts.
    Sie blieben so lange, bis sie rund um das Grab etwas Ordnung hatten machen können. Es gab keine Tränen, aber Sing dankte Angus mit ruhigen Worten und bat darum, eine Weile allein sein zu dürfen.
    »Nehmen Sie sich Zeit, Mädel. Wenn Sie so weit sind, finden Sie mich im Esszimmer.« Sing Devereaux saß am Grab der Mutter, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Niemand würde je erfahren, worüber die beiden sprachen.
    Als sie das Esszimmer betrat, blieb sie bei den offenen Terrassentüren stehen. An der hinteren Wand des langen Raumes hing nun, den größten Teil der Wand einnehmend und von oben beleuchtet, das lebensgroße Porträt von Li-Xia und Captain Devereaux. »Ich habe es von Experten säubern und restaurieren lassen. Es ist von George Chinnery persönlich gemalt, direkt vor der Tür, in der Sie gerade stehen.«
    Sing konnte kaum Worte finden, um ihm zu danken. Nach seinem Aufbruch saß sie an dem glänzenden Tisch unter dem Porträt ihrer Eltern und schrieb unverzüglich an den Hauptsitz der Seemannsmission »Fliegender Engel« in England und bat um Information über Agnes Gates.
    Die Antwort, die Wochen später eintraf, fiel so aus, wie Sing es sich erhofft hatte. Die Zweigstelle der Organisation in Shanghai sei immer noch in Betrieb, und Miss Agnes G. Gates leite sie seit dreißig Jahren. Sing schrieb ihr umgehend und erhielt sofort eine Antwort, in der sie Sing drängte, sie sobald wie möglich zu besuchen. Sie deutete an, dass sie ihr wichtige Dinge erzählen müsse, die von äußerst vertraulicher Natur seien.
    Sie rief sogleich bei Angus an. »Ich muss nach Shanghai. Ich glaube, diese Dame kann mir vielleicht sagen, was wirklich mit meinem Vater geschehen ist. Könnten Sie schnellstmöglich einen Flug organisieren?«
    Er klang besorgt. Shanghai befand sich in japanischer Hand. Obgleich man die Beamten leicht bestechen konnte, solch einen Flug zu organisieren, hatte ihr Vater äußerst gefährliche Spiele mit äußerst gefährlichen Leuten getrieben. Sing dachte sich im Stillen,
was Angus wohl denken würde, wenn er von ihrem Kampf mit Ah-Keung wüsste, und dankte ihm für seine Besorgnis, bestand jedoch darauf, dass sie reisen müsse.
    Eine kurze Stille trat ein, dann sagte er: »Nun, ich nehme an, in sichereren Händen könnten Sie sich nicht befinden. Aggie Gates war wie eine Mutter zu ihm. Wenn überhaupt jemand etwas über Bens wahres Schicksal weiß, dann sie.«

    Von ihrem ersten Flug war Sing fasziniert. Das Catalina-Flugboot glitt tief über das Ostchinesische Meer, über den alten Vertragshafen Ningpo zur riesigen Mündung des Yangtze, dessen bevölkerte Gewässer mit japanischen Kriegsschiffen übersät waren. Es umrundete das Flickwerk aus Reisfeldern und Mangrovensümpfen, das die industrielle Enklave von Pudong umgab, streifte über die bewegte braune Oberfläche des Whangpoo-Flusses zum Handelskanal der Soochow-Bucht.
    Sing entdeckte, dass sich die Mission im Vergleich mit den alten Glasplattenfotografien in den Akten ihres Vaters kaum verändert hatte: ein großes, weitläufiges, zweistöckiges Betongebäude mit Fachwerkanbauten und einem Wellblechdach, auf dem das Emblem des Fliegenden Engels seine verrosteten Flügel ausbreitete und seine angeschlagene Trompete hob.
    Wenn das Gebäude hässlich war, so machte das Grundstück dies wieder wett, zu dem auch ein etliche Morgen großer, üppiger Gemüsegarten gehörte, in dem zufriedene Ziegen zwischen Hühnerställen und Ententeichen grasten. Auf dem zum Wasser hin abfallenden Gelände befand sich ein Obstgarten. Ein Anlegesteg, auf dem Kormorane und Tölpel hockten und ihre Flügel trocknen ließen, ragte in die wirbelnden Ströme des breiten Handelsflusses.
    Kurz nachdem sie an der Mission eingetroffen war, sank Sing in einen riesigen Sessel in Aggie Gates’ Wohnzimmer, das im oberen Stockwerk lag. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Kondensmilch. Frische Kuhmilch ist knapp in Shanghai - wir hatten eine Kuh, aber unsere japanischen Freunde haben sie recht
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