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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium
Autoren: David Ambrose
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    Tom Freeman betrachtete den Mann im weißen Kittel, der sich auf das Fußende seines Bettes stützte und dessen Worte ihm noch in den Ohren klangen: »Ich fürchte, es ist ein Todesurteil«, hatte der Arzt gesagt, »es sei denn, Sie ändern Ihr Leben von Grund auf«
    Es sei denn …
    Also gab es eine Chance. Aber wollte er sie überhaupt? Wollte er nicht lieber einfach sterben, so schnell wie möglich? Er versuchte es dem Arzt zu sagen, brachte aber nur ein raspelndes Geräusch in der Kehle zustande. Ihm fiel wieder ein, dass sein Hals in einem steifen Kragen steckte und seine Kiefer mit Draht fixiert waren. Zusätzlich war er wegen dreier gebrochener Rippen, einer gebrochenen Schulter, einer angebrochenen Hüfte und einem Beinbruch eingegipst. Es war ein Wunder, dass er noch lebte.
    Der Arzt – Mitte dreißig, nur ein, zwei Jahre älter als Tom – fuhr fort: »Irgendwann versagt Ihre Leber, oder Ihre Bauchspeicheldrüse ist hinüber, oder Ihre Nieren spielen nicht mehr mit – vielleicht auch alles zusammen. Ganz zu schweigen von den Hirnschäden, die sich bei solch hohem und dauerhaftem Alkoholkonsum unweigerlich einstellen. Und dabei haben wir nicht einmal Ihre Kokainsucht berücksichtigt.«
    Der Arzt hielt inne. Sein ernster Blick ruhte auf Tom, in der Hoffnung, dass seine Botschaft ankam und wenigstens ein bisschen Wirkung zeigte. Tom erwiderte den Blick und schwieg beharrlich. Er war fest davon überzeugt, dass jeder das Recht hatte, nach seiner Fasson zur Hölle zu fahren. Tatsächlich war es so ziemlich das Einzige, woran er glaubte. Er wünschte nur, er könnte seinen Mund dazu bringen, diese Worte zu formulieren, um sich nicht noch mehr von dem frommen Monolog anhören zu müssen, der ihm allmählich auf die Nerven ging.
    »Die gute Nachricht ist«, sagte der Arzt, »dass Sie wahrscheinlich nicht an den Folgen von Drogen- oder Alkoholkonsum, sondern wohl eher bei einem Unfall sterben, wie es gestern Nacht um ein Haar der Fall gewesen wäre. Sie müssen von einem vorbeifahrenden Fahrzeug gestreift worden sein, wahrscheinlich von einem Laster, Ihren Verletzungen nach zu urteilen. Können Sie sich an irgendwas erinnern?«
    Tom versuchte den Kopf zu schütteln, doch der Arzt hob rasch die Hand.
    »Nicht den Kopf bewegen. Man hat Sie an der Ecke River und Pike aus einem Graben gezogen. Jemand hat hier angerufen und den Fund einer Leiche gemeldet. Die Rettungssanitäter hielten Sie anfangs tatsächlich für tot, weil Sie keine Lebenszeichen mehr zeigten, aber dann wurden Sie im Rettungswagen reanimiert, obwohl niemand daran geglaubt hat, dass Sie überleben.«
    Tom wollte fragen, wo sich die Ecke River und Pike befand, musste seinen Versuch aber erneut abbrechen. Außerdem – war das überhaupt wichtig? Es hatte keine Bedeutung für ihn. Er würde sich ohnehin nicht daran erinnern können, wie er dort hingekommen war.
    Er wusste, dass er sich in Albany befand, aber der letzte Aufenthaltsort, an den er sich erinnern konnte, war Manhattan – irgendein Club in Tribeca, wo er einen der Musiker kannte. Jemand hatte dann vorgeschlagen, das Hudson Valley hinaufzufahren. Angeblich fand dort, in der Nähe von Albany, ein Rockfestival statt. Das Nächste, woran Tom sich erinnerte, war die Limousine. Irgendein Trottel hatte eine Limousine gemietet.
    Wessen Idee war das gewesen?
    Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, dass es seine Idee gewesen war. Er erinnerte sich, dass sich eine Menge Leute in den Wagen gezwängt hatte und dass sie auf der Fahrt ein paar Mal an Bars oder Kneipen Pausen eingelegt hatten, um nachzutanken. Und natürlich hatten alle die üblichen Drogen intus.
    Aber weiter reichte seine Erinnerung auch schon nicht mehr. Sie mussten ihr Fahrtziel jedenfalls erreicht haben, obwohl er keine Erinnerung an ihre Ankunft hatte. Was, so fragte er sich, war mit den anderen passiert? Es war unwahrscheinlich, dass er es jemals erfahren würde, weil er keine Ahnung hatte, wer diese anderen gewesen waren. Er konnte sich an kein einziges Gesicht erinnern. Alles war ein schemenhaftes, wirres Durcheinander von Alkohol und Koks und wieder Alkohol, gefolgt von noch mehr Koks, Pillen, Joints, Drinks … bis er sich hier wiederfand, eingewickelt wie eine Mumie und wie eine Rinderhälfte im Schlachthaus an Haken und Flaschenzügen aufgehängt.
    Verdammt, er brauchte einen Drink!
    Der Arzt, der die Arme verschränkt hatte, betrachtete ihn immer noch und wartete geduldig auf eine Reaktion. Doch Tom hatte mit sich
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