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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium
Autoren: David Ambrose
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mithilfe eines Stockes über den Krankenhausflur. Das Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster, wurde von den weißen Wänden und dem gebohnerten Boden gespiegelt und verlieh der Gestalt, die auf ihn zukam, ein Leuchten – wie ein Körper, der Gestalt annahm, während er aus einer Fata Morgana heraustrat. Zuerst dachte Tom, es sei eine Krankenschwester; dann sah er, dass sie keine Uniform trug, sondern ein Baumwollkleid und schlichte Pumps mit flachen Absätzen. Sie besaß den geschmeidigen Gang einer Tänzerin, leicht und fließend. Als sie näher kam, erkannte Tom, dass ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, wodurch die beinahe perfekte Symmetrie ihres Gesichts betont wurde. Sie hatte ein energisches Kinn, einen breiten Mund und grüne Augen, die jeden, den sie fixierten, in eine Umlaufbahn zu ziehen schienen.
    Dem Blick, mit dem sie Tom bedachte, war zu entnehmen, dass er sie angestarrt hatte. In diesem Moment erkannte auch sie ihn und öffnete überrascht den Mund.
    »Tom Freeman! Was machst du denn hier?«
    »Das wollte ich dich auch gerade fragen.«
    Sie waren stehen geblieben und blickten einander an, während Besucher und Krankenhauspersonal an ihnen vorübereilten.
    »Ich habe meine Kusine besucht«, sagte sie. »Sie hat sich die Weisheitszähne ziehen lassen.«
    »Wohnst du hier? In Albany?«
    »Ungefähr dreißig Kilometer von hier, in einem kleinen Ort am Fluss. Saracen Springs. Und du?«
    »Ach, ich war nur auf der Durchfahrt.«
    Sie blickte auf seinen Stock und bemerkte, wie steif sein Körper war. »Was ist passiert? Hattest du einen Unfall?«
    »Ja«, sagte er und lächelte gequält.
    »Erzähl.«
    »Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?«
    »Ja, klar.«
    Sie setzten sich auf Aluminiumstühle an einem Resopaltisch in der Krankenhauskantine. Es war zehn Jahre her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, sodass es viel zu erzählen gab.
    »Ich habe gehört, du hast anfangs Karriere in der Werbebranche gemacht«, sagte sie. »Dann aber wusste plötzlich keiner mehr, wo du steckst oder was du so treibst.«
    »Jetzt weißt du’s«, entgegnete Tom und erkannte erstaunt, dass sie ihn und seinen Werdegang offenbar im Auge behalten hatte. Damit hätte er niemals gerechnet. Er und Clare Powell waren am College befreundet gewesen, hatten aber nie etwas miteinander gehabt. Tom war immer schon ein wenig von Clare eingeschüchtert gewesen. Ihre Schönheit und Offenheit hatten ihn angezogen; dennoch war stets eine gewisse Distanz zwischen ihnen geblieben. Außerdem ging Clare damals mit einem Jungen aus einer angesehenen Bostoner Familie. Alter Geldadel.
    »Du hast Jack geheiratet, nicht wahr?«, fragte er, obwohl er sah, dass sie keinen Ehering trug.
    Sie blickte auf ihren bloßen Finger. »Ja«, sagte sie, und ein verlegener Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Wir haben uns vor drei Jahren scheiden lassen, ohne Skandal und großes Aufsehen. Wir sind einfach bloß … getrennte Wege gegangen.«
    »Das tut mir Leid«, bemerkte er und sagte sich im gleichen Augenblick, dass er ein Heuchler war. »Kinder?«
    Clare schüttelte den Kopf »Ich glaube, wir hatten beide irgendwie den Verdacht, dass es letztendlich nicht mit uns klappt. Vielleicht waren wir zu jung. Ich weiß es nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Kinder haben wir nicht. Und du?«
    »Nein. Ich war nicht mal verheiratet.«
    Sie bedachte ihn mit dem blitzenden Lächeln, das schon damals sein Herz hatte schneller schlagen lassen. Doch dieses Lächeln schenkte sie jedem. Es gehörte zu ihrer Art, mit Menschen umzugehen. Also hatte er keinen Grund, sich für etwas Besonderes zu halten, nur weil sie ihn mit diesem Lächeln bedachte. Aber jetzt, als er allein mit ihr in dieser tristen, farblosen Umgebung saß, gab ihm dieses Lächeln ein ganz besonderes Gefühl.
    »Ja«, sagte sie, »du warst immer der nette Junggeselle.«
    Er blinzelte, als ihre Blicke sich trafen. In ihrer Gegenwart kam er sich ungeschickt und ein wenig dumm vor, wie schon damals. »Nett?« Machte sie sich über ihn lustig? Oder schmeichelte sie ihm? Flirtete sie vielleicht sogar mit ihm? Tom räusperte sich und verlagerte die Körperhaltung auf dem harten Stuhl, um das Kribbeln der tausend Ameisen in seinem linken Bein zu lindern.
    »Nett? Eher dumm«, entgegnete er mit einem selbstironischen Lachen. Er wollte klare Verhältnisse schaffen, wollte sichergehen, dass diese bezaubernde und begehrenswerte junge Frau wusste, welchen Scherbenhaufen er aus seinem
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