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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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1
    Ich lebe hier oben und empfange diejenigen, die den Berg heraufsteigen.
    Manche haben ein Ziel, andere wandern einfach durch die Wälder. Viele Wege führen herauf, nur einer davon kommt hier vorbei, vielleicht der abwechslungsreichste. Manche gehen einfach weiter, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, andere bleiben neugierig stehen.
    »Was ist das hier, eine Berghütte, ein Gasthaus?«
    Sie verstehen nicht.
    »Bin ich Ihnen etwas schuldig?«, fragen sie, wenn ich ihnen außer Wasser auch Wein anbiete.
    »Der Preis ist das Geschenk des Gastes«, antworte ich.
    Manche lächeln, bemühen sich zu begreifen; andere trinken rasch aus und gehen, ohne sich noch einmal umzudrehen, als verfolgte sie eine unsichtbare Gefahr.
    Zuweilen jedoch kommen die Menschen wieder. Nicht wegen des Berges, sondern wegen dieses Zimmers, in dem das Feuer brennt. Nur wenige geben zu, dass sie extra gekommen sind, die meisten erfinden Ausreden: »Ich kam zufällig vorbei … Ich habe hier in der Nähe Pilze gesucht … Ich wollte auf der anderen Seite aufsteigen, habe mich aber im Weg geirrt …«
    Am häufigsten kommen diejenigen zurück, die Wasser und Wein lächelnd angenommen haben. Die, die geflüchtet sind, sehe ich selten wieder, und wenn, verbringen sie mehr Zeit damit, sich zu rechtfertigen. Einer hat mich sogar angeschrien: »Ich habe doch keine Zeit zu verlieren!«
    »Warum sind Sie denn dann gekommen?«, habe ich ihn gefragt. »An diesem Ort steht die Zeit still.«
    Manche dagegen kommen und schütten mir ihr Herz aus.
    »Trösten Sie mich, Padre«, hat eine Frau einmal am Ende ihrer Geschichte zu mir gesagt.
    »Ich bin kein Pfarrer«, habe ich geantwortet.
    Ruckartig ist sie aufgesprungen: »Ja, warum habe ich Ihnen dann das alles erzählt?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Womöglich sind Sie ein Betrüger!«, hat sie im Hinausgehen geschrien.
    »Was hätten Sie denn gewollt? Was hätte ich denn sein sollen?«, habe ich geantwortet, aber meine Worte sind an den Brettern der zugeschlagenen Tür abgeprallt.
    Häufig fragen mich die Leute im Sommer, wenn sie meine Schafe sehen: »Verkaufen Sie Käse? Diesen guten, echt biologischen?«
    »Ob er gut ist, weiß ich nicht«, antworte ich, »aber wenn Sie wollen, können Sie ihn probieren.«
    Sie nehmen es übel, wenn ich sage, dass ich ihn zu meinem persönlichen Gebrauch herstelle. Zum Trost biete ich ihnen an, dass sie ein Stück mitnehmen dürfen.
    »Gern, danke«, antworten viele, »aber ich bezahle es.«
    »Das ist nicht nötig.«
    »Ich möchte aber.«
    »Gut, wenn es Sie glücklicher macht …«
    »Sie sind doch kein Hirte.«
    »Wenn ich bei den Schafen bin, bin ich ein Hirte.«
    »Ja, gut, aber Sie leben nicht davon.«
    »Wenn ich den Käse esse, lebe ich davon.«
    »Und was machen Sie, wenn Sie nicht Hirte sind? Was arbeiten Sie?«
    »Ich stelle die Sachen her, die ich zum Leben brauche.«
    »Ist das alles?«, wundern sie sich. »Das ist doch keine richtige Arbeit!« Andere lächeln: »Sie Glücklicher! Wie gern würde ich auch hier oben leben!«
    Wenn man weitab von der Welt wohnt, zieht man leicht die Phantasien verletzlicher Menschen an.
    In der ersten Zeit gab es einen Rentner, der häufig heraufkam. Mit schnellem Schritt näherte er sich, und er sprach ebenso schnell. Er grüßte nicht und betrat nie das Haus. Sobald er mich sah, rief er: »Ich weiß, was Sie sind, Sie sind ein Perverser, der hier oben lebt, um seine Orgien zu feiern! Ich falle nicht darauf herein, o nein, ich nicht! Warum sondert sich jemand ab, wenn er kein Schwein ist? Normale Männer haben Ehefrauen und Kinder, sie leben nicht im Wald und lauern auf Opfer! Schämen Sie sich, Sie Schwein!«, rief er und verschwand dann wieder im Wald, begleitet vom Dämon seiner Zwangsvorstellungen.
    Anfangs konnte ich dieses ständige Bedürfnis nach Definitionen nicht ertragen. Wenn es kein Adjektiv, kein Nomen gibt, um dich irgendwo einzuordnen, existierst du nicht. Dann habe ich mich daran gewöhnt und verstanden, dass dieses Klassifizieren zum Wesen des Menschen gehört. Wenn ich weiß, wer du bist, weiß ich, wie ich mich dir gegenüber verhalten muss, wenn du aber ein Mensch ohne Bindungen bist und keine feste Rolle hast, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Du bist nackt. Und Nacktheit ist ein Stein des Anstoßes.
    Wir haben alle eine Definition, die uns erlaubt zu leben, und diese Definition ist unser Floß, dank dessen wir im Sturm der Tage nicht untergehen und ohne wahnsinnig zu werden bis
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