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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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aufdeckt. Aber wie auch immer, Propheten sind zurzeit nicht gerade in.«
    »Propheten sind nie in«, antwortete ich, bevor ich mich für die Nacht verabschiedete.
    In jener Nacht konnte ich nicht einschlafen. So schwer es war, mir das einzugestehen, irgendetwas an ihm beunruhigte mich. Ich hörte sein leises Schnarchen und fühlte mich zunehmend verunsichert. Als ich am nächsten Morgen sah, wie er sorgfältig und ordentlich die Tassen und die Teekanne auf dem Spülbecken aufräumte, breitete sich meine Unruhe aus wie ein Ölfleck.
    An dem Tag wollte ich ihn in den Wald begleiten. Blätterraschelnd gingen wir nebeneinander, sprachen wenig. Ich erzählte ihm die Geschichten des Waldes, die ich in- und auswendig kannte, und er hörte schweigend zu. Ab und zu fragte er etwas, ob es Dachse gebe, nach der Populationsdichte und Gesundheit der Rehe. Auf dem Rückweg veranlassten ihn seine langen Beine, vor mir zu gehen. Je sicherer sein Schritt war, umso unsicherer wurde der meine, mit jedem Meter.
    Vor dem Abendessen – mit einer Ungeschicktheit, die ich längst überwunden glaubte – stolperte ich und verschüttete die Suppe. Der Junge half mir, den Tisch abzuwischen, und als er meine Betrübnis sah, ermunterte er mich schulterzuckend: »Nicht so schlimm! Mit so was muss man sich abfinden …«
    In dieser Nacht, sobald er eingeschlafen war, ging ich in den Stall, um wieder ruhig zu werden.
    »Weißt du, was dein Name bedeutet?«, fragte ich ihn am nächsten Morgen, als er verstrubbelt und mit zerknittertem Sweatshirt vor mir auftauchte.
    »Selbstverständlich. Gott hat gegeben.«
    Es folgte ein langes Schweigen, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte: »Singt deine Mutter?«
    Als er antwortete: »Ja«, sind mir die Kräfte geschwunden. Eine Weile irrte sein Blick durch den Raum, genau wie der meine.
    »Warum bist du hergekommen?«
    »Einfach so, aus Neugier. Weil es nicht schön ist, jeden Tag aufzustehen und das Gesicht des eigenen Vaters nicht zu kennen, nicht zu wissen, was vor dir war.«
    Danach hat er mir erzählt, dass Larissa einen Geiger der Scala geheiratet und noch eine Tochter bekommen hatte, Cecilia, und dass sie noch immer sang.
    »Verachtest du mich?«, habe ich seinen Rücken gefragt, während er seine Tasse spülte.
    »Meine Mutter hat mich gelehrt, über niemanden zu urteilen.«
    Dann hat er seinen Rucksack gepackt.
    »Waren die Spechte ein Vorwand?«, fragte ich, während er seine Sachen verstaute.
    »Nein«, erwiderte er. »Sie interessieren mich wirklich.«
    Ich begleitete ihn bis an den Rand der Wiese. Meine Füße waren schwer wie Blei, mein Herz wie versteinert, bedrückt von einer Angst, die ich noch nie empfunden hatte. Als ich fragte: »Kommst du wieder?«, wunderte ich mich nicht über die Brüchigkeit meiner Stimme.
    Nathan lächelte – es war das Lächeln meines Vaters. »Findest du das nicht auch komisch?«, bemerkte er.
    »Komisch, was?«
    »Dass die Geschichte sich verkehrt hat.«
    »Welche Geschichte?«
    »Die vom verlorenen Sohn. Da war der Sohn von daheim weggegangen, und es war der Vater, der ihm bei seiner Rückkehr verzeihen musste. Hier dagegen ist es der Vater, der geht, und der Sohn muss sich auf die Suche nach ihm machen, muss Meere und Berge bezwingen, um ihn zu finden.« Er lachte laut los. »Auf die Religion ist kein Verlass mehr. Die Welt steht wirklich kopf. Jetzt sind es die Väter, die ihre Söhne um Verzeihung bitten müssen.«
    Wir standen voreinander. Gern hätte ich seine Hand zwischen die meinen genommen, wie mein Vater es machte; am liebsten hätte ich ihn umarmt. Als ich sagte: »Verzeih mir«, wurde er über und über rot.
    »Schon geschehen«, erwiderte er mit einem unerwarteten Zittern in der Stimme. »Schon geschehen, auch wenn du dich wie ein Schweinehund benommen hast. Aber« – er zögerte einen Augenblick und fuhr dann in seinem gewohnten ironischen Ton fort – »erwarte nicht, dass ich das fette Kalb schlachte. Kein Kalb, kein Lamm und auch kein Huhn. Ich werde zur Feier des Tages höchstens eine Aubergine schlachten, ich bin nämlich Vegetarier.«
    Für den Bruchteil einer Sekunde war alles offen. Beide schwankten wir zwischen Anziehung und Furcht, und so trennten wir uns, ohne uns zu berühren.
    Erst auf der Hälfte des Abhangs, fern von der Gefahr eines Gefühlsausbruchs, den er nicht hätte kontrollieren können, drehte er sich zu mir um und rief: »Ja, ich komme wieder.« Bevor er, unten an der Wiese angelangt, verschwand, winkte er
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