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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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langweilig«, stöhntest du. »Das wissen wir seit Adam und Eva. Und je älter sie werden, umso langweiliger werden sie.«
    »Und dann?«
    »Ich werde es einfach nicht zulassen.«
    »Und wenn ich sonntags im Radio Fußball höre, während wir Hand in Hand spazieren gehen?«
    »Dann laufe ich tausend Meilen weit weg, bin kein Fluss mehr, sondern Dampf. Eines Morgens wachst du auf und findest an meiner Stelle nur das leere Flussbett.«
    In den langen, einsamen Wintern habe ich mich oft gefragt, wie die Welt um mich herum wäre, wenn du sie noch mit deinen Augen sehen würdest. Als ich sagte: »Ich bin langweilig«, sagte ich die Wahrheit. Du warst für mich wie ein Schlangenbeschwörer, du spieltest, und ich kam aus dem Korb hervor. Doch ohne deine Musik wurden meine Gedanken eng wie die eines Reptils.
    Deine Phantasie konnte noch das banalste Ereignis in etwas Wunderbares verwandeln. Ich dagegen hatte von jeher einen forschenden Blick. Anstatt die Realität mitzugestalten, stürze ich mich lieber hinein, wühle in der Erde, grabe, bewege mich schnüffelnd und tastend voran in dem Versuch herauszufinden, was sich unter der Banalität der Tage verbirgt. Aus diesem Grund war ich wohl auch ein guter Arzt. Deshalb bin ich vielleicht sogar hier oben nie wirklich allein, die Gedanken leisten mir Gesellschaft, indem sie alles mit der Akribie eines Insektenforschers sezieren.
    Zwischen zwei Bäumen erahne ich dort unten im Tal die Nacht der Menschen. Einige Häuser klettern die Ausläufer des Berges hinauf – kleine Lichter, die in der Dunkelheit leuchten, gelegentlich durchkreuzt von den Scheinwerfern der Autos. Weiter unten werden die Lichter dichter, mischen sich mit den Straßenlaternen. Geräusche dringen aus der Nacht der Menschen nur wenige herauf. Ein Hupen, ein Bremsenquietschen, ein ferner Widerhall von Glockenschlägen. Im Winter könnte ich die Wochentage allein an den heraufkommenden Tönen unterscheiden. Fünf Tage lang verstummt das unstete Brummen der Autos bei Einbruch der Dämmerung, Samstag und Sonntag dagegen nimmt es nach dem Abendessen zu – gekrönt von gelegentlichem Aufheulen der Motoren – und dauert bis zum Morgengrauen. In Autos gezwängt, fahren die Menschen in die Diskotheken und Lokale der Ebene. Sich amüsieren – das ist mittlerweile wohl der einzige Imperativ der Freizeit.
    Noch ein Monat bis Weihnachten. Von hier oben kann ich den großen Kometen über der Hauptstraße des Dorfes mit all den Girlanden weißer Lämpchen davor und dahinter erkennen, die ihn mit anderen Sternen verbinden. Buntes Geflimmer schmückt auch die Häuser, Villen und Bauernhöfe. Tannen blinken im Dunkeln wie verrückt gewordene Ampeln neben mit Lichtern bekränzten Sträuchern, Rosenstöcken oder Apfelbäumen. Wer keine Bäume hat, hängt die Lichterketten an die Balustraden, Gitterzäune und Fensterbretter. Alles, was sonst in diskrete Dunkelheit gehüllt ist, funkelt in diesen Nächten und beleuchtet die ganze Umgebung.
    Wenn die Nacht die Nachmittage zu verschlingen beginnt, entdeckt man auf einmal, dass man sich nach Licht sehnt, und so verwandeln sich Täler, Hügel und Felder in das Zeichen dieses Mangels. Immer erstaunlichere, grellere Lichter verwandeln die stille Atmosphäre des Winters in das fröhliche Bild einer Kirmes.
    Was wird eigentlich gefeiert? Niemand weiß es mehr, niemand erinnert sich daran.
    Mehr denn ein Fest scheint es eine Form von Widerstand zu sein. Man trotzt der Dunkelheit, man wehrt sich gegen die geheimnisvolle Nacht, die tief in jedem von uns herrscht, jene Finsternis, die uns früher oder später alle erwartet.
    An Frühlings- und Sommertagen ist es leicht, dieses Gespenst zu verbannen. Alles leuchtet. Doch wenn sich die Sonne zurückzieht und sich die Dunkelheit mit ihren Eisfingern herabsenkt, wenn uns diese Finger streifen und an unsere Zerbrechlichkeit erinnern, wird alles schwieriger. Wir sind wie dünne Glaskugeln, der geringste Stoß genügt, damit wir zersplittern. Wie lange braucht es, bis diese Splitter sich wieder in schöne schillernde Kugeln verwandeln? Wir wissen es nicht, denn in unserer Zeit kann kein Bruchstück wieder Form werden. Also ist das Licht unsere Gesellschaft, unsere Freundin, unser Heilmittel. Daran halten wir uns, bis die Nachmittage schüchtern heller werden, bis die Vögel das winterliche Schweigen durchbrechen und die Luft mit Gezwitscher erfüllen, das schon von Liebesgeplänkel kündet.

3
    Seit fünfzehn Jahren wohne ich nun hier oben. Bei
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