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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben
Autoren: Boris Pfeiffer
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Auf der Suche
    Was stach ihn da? Unwillig drehte Rufus den Kopf zur Seite und zuckte erschrocken zurück, als sich wieder etwas Spitzes in seine Schläfe bohrte. Was war da los? Er hatte doch eben noch auf einer Lichtung am Feuer gesessen. Die Flammen waren in der Dunkelheit gen Himmel geschlagen, und ihr Schein hatte auf den Stämmen am Rand der Lichtung geflackert.
    Außerdem war da noch ein kleinerer Schatten gewesen, der sich geschmeidig vor dem Feuer hin und her bewegte, und in dessen behaartem Gesicht zwei silberne Knopfaugen glänzten …
    Rufus hielt den Kopf ganz still und konzentrierte sich. Sofort hörte das Stechen auf. Auch das Feuer knisterte wieder und er konnte Rauchgeruch wahrnehmen. Dann schlugen die Flammen von einer Sekunde zur anderen hoch empor.
    Er war zurück. Er saß irgendwo in einem Wald, am Rand einer Lichtung. Aber wo war er?
    Ein Mann trat aus der Dunkelheit vor die Flammen. Er hatte einen wilden Bart und sein Haar glänzte im Feuerschein. Er sagte etwas, das Rufus nicht verstand. Aber er sprach anscheinend zu jemandem.
    Vorsichtig richtete Rufus sich auf. Hinter ihm war dichter Wald. Doch vor ihm öffnete sich die Lichtung, und in der Mitte erhob sich ein kleiner Hügel, auf dem ein Baum mit hängenden Ästen wuchs. Unter der kahlen Krone saß eine Frau. Zu ihr musste der Mann gesprochen haben, denn sie blickte kurz zu ihm auf. Doch sofort wanderte ihr Blick zurück zu zwei Mädchen, die sie in Decken gehüllt fest in ihren Armen hielt. Die Mädchen hatten die Köpfe gesenkt und blickten starr zu Boden.
    »Der Stamm braucht dich!«, sagte der Mann. Diesmal konnte Rufus ihn verstehen. Es war eine seltsame Sprache, voller fremder Laute. Die Frau antwortete etwas und das verstand Rufus nicht. Aber die Worte klangen wie rigani, ei thad und saliko.
    Sie schwieg einen Augenblick, als lausche sie ihren Worten nach. Als sie weitersprach, konnte Rufus auch sie verstehen: »Jetzt brauchen mich meine Töchter.«
    »Der Stamm hat keinen Anführer ohne dich«, sagte der Mann eindringlich. »Du musst zu ihm zurückkehren, Königin. Du hast die Kinder in Sicherheit gebracht! Sie sind gerettet!«
    Die Frau zog die Kinder enger an sich.
    »Geh, Mutter«, sagte in diesem Moment eine klare Stimme. Es war das ältere der beiden Mädchen, das sprach: »Wir bleiben im Schutz des Baumes.«
    »Nein, meine Töchter«, flüsterte die Frau. »Ich werde euch nicht alleine lassen.«
    »Du musst«, sagte nun auch das andere Mädchen, das deutlich kleiner war als seine Schwester und dessen Stimme zerbrechlich klang. »Du bist die Königin.«
    Die Frau ließ die Arme sinken. Dann stand sie abrupt auf. Sie war groß und athletisch und trug ihre langen, rotblonden Haare in viele Zöpfe geflochten, die kunstvoll im Nacken zusammenliefen und dort von einem schwarzen Band zusammengehalten wurden. Schnell trat sie unter die hängenden Äste des Baumes, nahm einige Zweige und verknotete sie leicht miteinander.
    »Behüte meine Töchter, heiliger Baum«, sagte sie, die Zweige fest in der Hand. »Ich bitte dich, dass sie in deiner Obhut den Überfall auf unseren Stamm vergessen können. Ich will, dass sie frei aufwachsen und frei lieben werden. Dass ihre Liebe erwidert wird. Und für mich erbitte ich Kraft. Gib mir die Kraft, dass Recht wieder zu Recht werden kann.« Ihr Gesicht wurde hart. »Und gib mir Kraft genug, Vergeltung zu üben.«
    Die Frau ließ die Zweige los und für einen Moment schwangen sie in der Luft. Dann hingen sie wieder still in der Dunkelheit. Kein Windhauch bewegte die Nacht.
    Rufus war kalt. Erst jetzt bemerkte er, dass rund um den Baum einige kleinere Schneefelder den Boden bedeckten.
    Die Frau wandte sich wieder den Mädchen zu: »Ich kehre jetzt zum Stamm zurück und werde mich beraten. Ihr bleibt solange hier. Sobald meine Entscheidung gefallen ist, schicke ich euch Tyrai als Begleiter. Wenn wir in den Kampf ziehen und der Baum meine Wünsche erhört, kehren wir später zu ihm zurück und bringen ihm unser Geschenk. Jetzt wird er euch behüten.«
    Sie sah den Mann an, der gehorsam nickte.
    Rufus blickte zu den Mädchen. Die beiden lehnten sich in ihre Decken gehüllt Seite an Seite gegen den Baumstamm. Ein Streifen Mondlicht fiel durch die dichten Zweige. Für einen Augenblick traf das Licht die Gesichter der Mädchen. Rufus schaute genauer hin. Er wollte wissen, wer diese beiden Mädchen waren und wie sie aussahen. Doch ehe er Einzelheiten erkennen konnte, trat die Königin vor sie und
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