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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben
Autoren: Boris Pfeiffer
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spitzte schon wieder die Ohren. »Was für ein Tier denn?«, wollte er wissen.
    »Keine Ahnung«, gab Rufus zu. »Das war alles etwas wirr.«
    Der Koch lächelte. »Verstehe!« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und legte einen frisch gebackenen Brotring mit einem Loch in der Mitte, einen dampfenden Halbmond aus hellem Teig und ein rosettenförmiges Brötchen auf einen Holzteller. Dann goss er eine kräftige Portion Honig dazu, bestreute die Brötchen mit Mohn, Anis und Fenchel und stellte ein schiffförmiges Schälchen mit Salz daneben. Das Ganze reichte er Rufus.
    »Heute gibt es römische Brotsorten zum Frühstück. Damals existierte eine sehr viel größere Vielfalt als heute. Diese Ringform hier wurde beispielsweise zu Hochzeiten gereicht. Und kannst du mir sagen, was die Halbmond- und die Rosettenformen der Brötchen auf deinem Teller zu bedeuten haben?«
    Rufus grinste. »Die macht der Bäcker, damit das Brötchen gut aussieht. Und das tun diese Brötchen hier alle!«
    Meister Spitznagel lachte auf. »Wenn es so simpel wäre, würden wir in einer bescheidenen Welt leben. Nein, mein Lieber, auch Brotformen haben ihre Geschichte. Der Halbmond hier ist ein sogenanntes Gebildebrot. Die Form hat eine tiefere Bedeutung, als man ahnt. Der Mond steht für die griechische Göttin Selene, eine Mondgöttin. Und es gab auch noch Brötchen, die aussahen wie Drachen und Schlangen, Zöpfe und Pyramiden.«
    »Und das ist historisch?«, sagte Rufus und betrachtete seine Brötchen etwas skeptisch.
    Meister Spitznagel lächelte. »Historisch wahr und verbürgt. Es weiß nur niemand mehr. Guten Appetit!« Der Meister strich die nächste Ladung Brötchen auf einen Tisch und bestückte den Spieß sofort mit neuen, rohen Teigklumpen.
    »Danke!« Rufus wandte sich ab, um zu gucken, ob Filine oder No inzwischen aufgetaucht waren. Stattdessen fiel sein Blick auf Coralia, die einige Schritte hinter ihm mit zwei Gesellen in den Saal getreten war und eifrig diskutierte. Sie trug eine Art Bauchtanzkostüm und sah wieder einmal höchst exotisch aus. Gerade hob sie die Hand, um dem rothaarigen Anselm, der Rufus neulich vom Elternbesuchstag erzählt hatte, ins Wort zu fallen. Anselm schüttelte den Kopf, aber der Dritte im Bunde, ein hagerer blonder Junge mit einem schmalen Mund und braunen Augen, den Rufus nicht kannte, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. In diesem Moment streifte Coralias Blick Rufus. Ihre Augen blitzten auf und funkelten schwarz.
    Rufus wollte ihr gerade zunicken, als Meister Spitznagel ihm von hinten auf die Schulter tippte.
    »Was ich vergessen habe, Rufus! Falls dein Traum doch ein historischer Traum gewesen sein sollte, versuch ruhig, ihm weiter zu folgen.«
    Rufus drehte sich um. »Wie soll man denn einem Traum folgen?«, fragte er verwundert.
    Meister Spitznagel zuckte die Schultern. »Wir sind immerhin in der Akademie. Und Träume in der Akademie können schon irgendwie anders sein.« Er sah Rufus kurz in die Augen, dann grinste er spöttisch: »Aber das ist nur so eine Idee.«
    Rufus nickte und Meister Spitznagel nahm sich den nächsten Teigberg vor.
    Der Lehrling sah sich nach einem Tisch um, an dem er essen wollte. Und dann entdeckte er plötzlich No.
    Er saß alleine in der hintersten Ecke vor einem großen Stein, um den mehrere Baumstümpfe herumstanden, und starrte auf seine Brötchen. Mit einem Finger malte er Kreise in den Honig.
    Quer durch den Saal ging Rufus zu ihm.
    »Hey, No! Warum hast du mich denn nicht geweckt? Ich dachte schon, ich hätte verschlafen!«
    »Was?« No sah auf. »Oh, hallo Rufus! Ich konnte schon seit Stunden nicht mehr schlafen. Da bin ich schon mal was essen gegangen.«
    »Du konntest nicht schlafen? Warum denn nicht? Sag bloß nicht, du hast die ganze Nacht gelesen.«
    »Sehr witzig«, stöhnte No.
    Rufus sah auf Nos Finger, mit dem der blonde Junge immer weitere Kreise im Honig zog.
    »Hast du schon darüber nachgedacht, was du deinen Eltern erzählst, wenn sie am Besuchstag kommen?«
    No schüttelte den Kopf. »Wenn, kommt sowieso meine Oma. Du weißt doch, was meine Eltern von diesem ›Eliteinternat‹ halten.« Er malte wieder einen Honigkreis.
    Rufus verzog den Mund. »Was machst du denn da?«
    »Nachdenken. Sag mal, weißt du, wie viele Holzarten es auf der Erde gibt?«
    »Keine Ahnung.« Rufus biss in sein erstes Brötchen. Es war wunderbar frisch und knusprig. Und historisch …
    No seufzte. »Es gibt schrecklich viele Holzarten. Und deswegen ist es völlig
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